Literaturräume, Schulbuch
302 DIe lIteratur zWIschen 1925 unD 1945 2 „Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist!“ Bertolt Brecht: „Schlechte Zeit für Lyrik“ und „Morgens und abends zu lesen“ (1938) Keine Chance für schöne Gefühle Bertolt Brecht hält Naturgedichte für genauso problematisch wie Gefühlsly rik. In einer Zeit, in der mit Buchenwald und Birkenau keine schönen Wald landschaften gemeint sind, sondern die Konzentrationslager des NSRegimes, muss Lyrik für Brecht Bewusstsein schärfen, politische Kritik provozieren. Na türlich bedauert der Dichter den Verlust der altbeliebten lyrischen Themen. Doch die Zeit erlaubt keine Flucht in die Idylle: „Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“ , so formuliert Brecht in dem Gedicht „An die Nach geborenen“ das Dilemma des Dichtens. Es herrschen „schlechte Zeiten“ für die Lyrik klassischen oder romantischen Stils. Auch Brecht schreibt Liebesge dichte, allerdings sehr sachliche. Texte von Brecht müssen übrigens, soviel dem Autor der „Literaturräume“ bekannt ist, aufgrund eines Einspruchs von Brechts Erben in der alten Rechtschreibung gedruckt werden. Bertolt Brecht Schlechte Zeit für Lyrik Ich weiß doch: nur der Glückliche Ist beliebt. Seine Stimme Hört man gern. Sein Gesicht ist schön. Der verkrüppelte Baum im Hof Zeigt auf den schlechten Boden, aber Die Vorübergehenden schimpfen ihn einen Krüppel Doch mit Recht. Die grünen Boote und die lustigen Segel des Sundes 1 Sehe ich nicht. Von allem Sehe ich nur der Fischer rissiges Garnnetz. Warum rede ich nur davon Daß die vierzigjährige Häuslerin gekrümmt geht? Die Brüste der Mädchen Sind warm wie ehedem. In meinem Lied ein Reim Käme mir fast vor wie Übermut. In mir streiten sich Die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum und das Entsetzen über die Reden des Anstreichers 2 . Aber nur das zweite Drängt mich zum Schreibtisch. Morgens und abends zu lesen Der, den ich liebe Hat mir gesagt Daß er mich braucht. Darum gebe ich auf mich acht Sehe auf meinen Weg und Fürchte von jedem Regentropfen Daß er mich erschlagen könnte. Walter Helmut Fritz: Bäume (1972) Wieder hat man in der Stadt, um Parkplätze zu schaffen, Platanen gefällt. Sie wussten viel. Wenn wir in ihrer Nähe waren, begrüßten wir sie als Freunde. Inzwischen ist es fast zu einem Verbrechen geworden, nicht über Bäume zu sprechen, ihre Wurzeln, den Wind, die Vögel, die sich in ihnen niederlassen, den Frieden, an den sie uns erinnern. 1 Sund: Bucht 2 Anstreicher: Hitler versuchte sich zunächst in Wien als Kunstmaler. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 2 4 6 8 2 4 6 8 10 12 14 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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