Literaturräume, Schulbuch
Eine Fülle von emen Für Kästners Gedichtbände charakteristisch ist die Mischung vieler emen. Kästner bringt Sozial- und Gesell- schaftskritisches, Gedichte über gescheiterte Wünsche, zerbrechende Lieben, allzu modebewusste Frauen, mo- ralische Heuchler oder wohlsituierte Bürger, die ihr Maturatreffen feiern: 301 DER LESERAUM Klassenzusammenkunft Sie trafen sich, wie ehemals, im 1. Stock des Kneiplokals. Und waren zehn Jahr älter. Sie tranken Bier. (Und machten Hupp!) Und wirkten wie ein Kegelklub. Und nannten die Gehälter. Sie saßen da, die Beine breit, und sprachen von der Jugendzeit wie Wilde vom eater. Sie hatten, wo man hinsah, Bauch, und Ehefrau’n hatten sie auch, und Fünfe waren Vater. Sie tranken rüstig Glas auf Glas und hatten Köpfe bloß aus Spaß und nur zum Hütetragen. Sie waren laut und waren wohl aus einem Guss, doch innen hohl, und hatten nichts zu sagen. Sie lobten schließlich, haargenau, die Körperformen ihrer Frau, den Busen und dergleichen … Erst dreißig Jahr, und schon zu spät! Sie saßen breit und aufgebläht wie nicht ganz tote Leichen. Da, gegen Schluss, erhob sich wer und sagte kurzerhand, dass er genug von ihnen hätte. Er wünsche ihnen sehr viel Bart und hundert Kinder ihrer Art und gehe jetzt zu Bette. Den andern war es nicht ganz klar, warum der Kerl gegangen war. Sie strichen seinen Namen. Und machten einen Aus ug aus. Für Sonntag Früh. Ins Jägerhaus. Doch dieses Mal mit Damen. Die „Lyrische Hausapotheke“ als „Medizin“ Erich Kästners populärster Gedichtband erschien 1936 in der Schweiz. Das Werk zirkulierte in Deutschland im Geheimen, oft in handschriftlichen Kopien. Im Warschauer Getto erhielt die Jüdin Teofila Langnas ein Exemplar. Sie schrieb es ab und schmückte es mit Bildern. Diese Abschrift schenkte sie 1941 Marcel Reich-Ranicki, ihrem Freund und späteren Mann, der zu einem der einflussreichsten Literaturkritiker der Nachkriegszeit werden sollte. Gemeinsam lasen sie die Gedichte, als ihnen der Tod im Getto drohte. Weshalb ausgerechnet die Lyrik Kästners im Getto von solcher Bedeutung war, und nicht etwa die „große“ Lyrik der Klassik oder Romantik, erklärte Lang- nas mit „seelischem Nachhilfeunterricht“, den sie mit den Gedichten erhalten habe. Kästner konnte offensicht- lich die Sorgen um das Überleben besser benennen als die Klassiker. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 AUFGABEN > Geben Sie jeder Strophe einen „Strophentitel“! Welche Steigerung des Geschehens vollzieht sich im Text? > Versuchen Sie die Verwendung des „Wir“ anstelle eines in der Lyrik eher üblichen lyrischen „Ich“ zu begründen! Bringt das Gedicht Fakten, Gefühle oder Kommentare? > Wie zeigt sich in Wortwahl, Satzbau und Stil die Absicht des Autors, „Gebrauchslyrik“ für ein großes Publikum zu schreiben? AUFGABEN > Schreiben Sie in Gruppenarbeit ein „Zukunftsgedicht“ zum ema „Klassentreffen der … Klasse zum 5-Jahres- und/oder 10-Jahres-, 20-Jahres-Maturajubiläum“! > Wählen Sie nach Belieben Ich-Form, Wir-Form, Präteritum, Präsens, Futur oder Futur 2. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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