Literaturräume, Schulbuch

298 die literatur zwischen 1925 und 1945 Die Epik: (Anti)kriegsromane, Zerstörung der Romanform, Nostalgie und Prophetie Der (Anti)kriegsroman In den Jahren zwischen 1920 und 1930 beherrscht die Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg die Roman­ literatur. Zu den ersten und zugleich bis heute umstrittensten epischen Texten über den Ersten Weltkrieg gehö­ ren die Kriegstagebücher „In Stahlgewittern“ (1920) und „Sturm“ (1923) von Ernst Jünger (1895–1998) (5) . Der Autor schildert zwar im Detail die Gräuel des Krieges, aber auch die Faszination, welche Kampf und Schlacht ausüben können. Jünger sieht im Krieg die Gelegenheit, Egoismus und Alltäglichkeit hinter sich zu lassen und sich für nicht materielle Werte wie Heimat, Nation, Gemeinschaft einzusetzen. Seine Kritik gilt nicht dem Krieg an sich, sondern den modernen Kampfmitteln, die den Kampf Mann gegen Mann nicht mehr erlauben und Menschen als eine Art von Kriegsmaterial „zur Schlacke zerglühen“ . Zu den entschiedensten Antikriegsromanen gehört „ImWesten nichts Neues“ (1929) von Erich Maria Remarque, einer der größten Bucherfolge der Zeit. Remarque berichtet in detaillierter Wiedergabe des alltäglichen Grauens über das Kriegsleben des Gymnasiasten Paul Bäumer, der als letzter seiner Schulklasse im Oktober 1918 in Frank- reich fällt, an einem Tag, über den das Heereskommando berichtet, dass „im Westen nichts Neues zu melden“ sei. Lange vergessen war der Roman „Heeresbericht“ (6) von Edlef Köppen (1893–1939). Heute gilt er als künstle­ risch hervorragender Antikriegsroman der Zeit. Die Zerstörung der traditionellen Romanform Im Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil (1880–1942) und in der „Schlafwandlertrilogie“ von Hermann Broch (1886–1951) tritt das Erzählen der Entwicklung und des Schicksals eines „Helden“ in den Hintergrund. Wichtiger als die Darstellung einer „Geschichte“ ist den Autoren das Nachdenken über den Verfall einer Gesellschaft, die bis zum Ersten Weltkrieg noch an eine für alle verbindliche Wahrheit und an allgemein gültige Regeln für Denken und Verhalten glaubte. Mit dem Krieg aber ist die Hoffnung auf eine verbindliche, ra­ tional begründbare „Wahrheit“ verloren gegangen. Da nichts als endgültig und gültig angesehen werden kann, schwindet auch die Selbstverständlichkeit und Sicherheit des Erzählens. Die Schwierigkeit des Erzählens wird selbst zum Inhalt des Erzählten. Broch und Musil versuchen in ihre Romane Wissenschaft, Philosophie, Kulturge­ schichte zu integrieren, um zu analysieren, wie die alte Welt zerfallen ist. Musil bezeichnet seinen Roman als ei­ nen „Essay von ungeheuren Dimensionen“ . Exil, Krankheit, Geldnot verhinderten den Abschluss des „Mann ohne Eigenschaften“, obwohl Musil bis zu seinem Tod 1942 nahezu ununterbrochen an seinem Roman arbeitete. Erst 1952 wird das Werk in einer Kombination aus fertig gestellten Kapiteln, Skizzen und Entwürfen veröffentlicht. Überzeugt von der Notwendigkeit sprachlicher Genauigkeit arbeitete Musil manche Kapitel bis zu zwanzigmal um, bis sie seiner Forderung nach Präzision genügten: „Stil ist für mich exakte Herausarbeitung eines Gedankens.“ Die Resonanz Musils zu seinen Lebzeiten war gering. Nur die frühe Schülergeschichte „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ hatte Erfolg. Die 1924 erschienenen Erzählungen „Drei Frauen“ blieben wenig beachtet. Heute werden sie zu den Höhepunkten der Erzählkunst der Zwischenkriegsliteratur gezählt (7) . Nostalgie … Die Personen in den Erzählungen und Romanen von Joseph Roth (1894–1939) sind Auswanderer, Fliehende, Entwurzelte, Menschen, die ihre geistige, seelische oder konkrete Heimat verloren haben. Sie spiegeln das Schick­ sal des Autors wider, der nach dem Zerfall der Monarchie seine Geburtsheimat, das habsburgische Galizien, verließ, in Wien lebte, nach Berlin zog, aus der Stadt wegen der NS-Herrschaft fortging, in verschiedenen Städten meist in Hotels lebte, nach Paris emigrierte und dort in einem Armenspital starb. Nur im Schreiben konnte sich Roth seine Heimat, das untergegangene Österreich-Ungarn, wieder schaffen. In seinen Werken ist er in „seiner“ Welt, fühlt sich geborgen wie in seiner galizischen Kindheit und der untergehenden Kultur des osteuropäischen Judentums. Den Zusammenbruch von Roths Welt schildern vor allem die Romane „Flucht ohne Ende“, „Hiob“, „Radetzkymarsch“ und „Die Kapuzinergruft“ (8) . Der Krieg von 1914 werde mit Recht als Weltkrieg bezeichnet, schreibt Roth in der „Kapuzinergruft“, „weil wir alle infolge seiner eine Welt, unsere Welt verloren haben“ . Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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