Literaturräume, Schulbuch
mehr, ihn [= den Zuschauer] besoffen zu machen, ihn mit Illusionen auszustatten, ihn mit seinem Schicksal auszu- söhnen“ . Die Stücke sollen nicht suggestiv sein, sondern Bewusstsein und Denken des Publikums schärfen. Dem Publikum soll klar werden, dass Geschehen und Charaktere geschichtlich bedingt sind und verändert werden können. Ganz bewusst nennt Brecht manche seiner Dramen „Lehrstücke“. Das Publikum soll nicht meinen, „so ist es, so wird es immer sein, das kann mir auch passieren, ich kann daran nichts ändern“ , sondern zu Eingriffen in die gesellschaftliche Realität aufgefordert werden. Beispiele für Brechts Dramen, die gesellschaftliche Widersprüche aufzeigen sollen, sind „Leben des Galilei“ (3) , „Mutter Courage und ihre Kinder“, „Der gute Mensch von Sezuan“, „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ und „Der kaukasische Kreidekreis“. Mittel des epischen Theaters Um die Identifizierung mit den Bühnenfiguren zu verhindern, bedient sich Brecht der „V-Effekte“ [= Ver fremdungseffekte]: Ansager auf der Bühne, Szenentitel, Inhaltsangaben, Spruchbänder mit Botschaften an das Publikum ( „Glotzt nicht so romantisch!“ ), Ende der Stücke mit Aufforderungen an das Publikum ( „Verehrtes Publi- kum, los such dir selbst den Schluss!“ ), Musik, Songs, Lichteffekte. Die Schauspieler sollen Distanz zu ihrer Rolle zeigen, die von ihnen dargestellten Personen „spielen“, aber nicht „verkörpern“. Die Volksstücke Ödön von Horváths Die Personen in den Stücken Ödön von Horváths (1901–38) sind alle aus der Bahn geworfen, von Krieg, Arbeits losigkeit und Weltwirtschaftskrise geprägt. Vor allem ihre Sprache entlarvt ihr falsches Bewusstsein und ihre falschen Gefühle. Ihre Sprache ist eine Sprache von der Stange: Hinter Phrasen, schönem Gerede, moralischem Gefasel, aufgeschnappten Redewendungen und gespielter Herzlichkeit verbergen sich Grausamkeit und die Unmöglichkeit, sich selbst zu durchschauen. „Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit als wie die Dumm- heit“ , lautet das Motto von „Geschichten aus demWiener Wald. Volksstück in sieben Bildern“, Horváths meistge spieltem Drama (1931). Hinter dem gemütlichen Titel des in einer kleinen Vorstadtgasse, im idyllischen Wiener wald und in der schönen Wachau spielenden Stückes verbergen sich Kindestötung, Brutalität und Männerherrschaft. Seelisch und körperlich ausgebeutet wird in diesem Drama das naive Mädchen Marianne, dem am Schluss nur die Resignation bleibt, ihr Leben niemals selbst gestalten zu können: „Ich hab mal Gott gefragt, was er mit mir vorhat. – Er hat es mir aber nicht gesagt, sonst wär ich nämlich nicht mehr da. – Er hat mir überhaupt nichts gesagt. – Er hat mich überraschen wollen. – Pfui!“ Horváths animalische Figuren Eine typisch grausige Horváth-Figur ist der Fleischhauergeselle Havlitschek aus „Geschichten aus dem Wiener Wald“. Hier eine Textprobe: Havlitschek im Gespräch mit seinem Chef Oskar über die Frauen. 297 die literaturübersicht Oskar tritt aus seiner Fleischhauerei: Dass du es nur ja nicht vergisst: wir müssen heut noch die Sau abstechen – Stichs du, ich hab heut keinen Spaß daran. Havlitschek: Darf ich einmal ein offenes Wörterl reden, Herr Oskar? Oskar: Dreht sichs um die Sau? Havlitschek: Es dreht sich schon um eine Sau, aber nicht um dieselbe Sau – Herr Oskar, bittschön nehmens Ihnen das nicht so zu Herzen, das mit Ihrer gewesenen Fräulein Braut, schauns, Weiber gibts wie Mist! Ein jeder Krüppel findt ein Weib und sogar die Geschlechtskranken auch! Und die Weiber sehen sich ja in den entscheidenden Punkten alle ähnlich, glaubens mir, ich meine es ehrlich mit Ihnen! Die Weiber haben keine Seele, das ist nur äußerliches Fleisch! Und man soll so ein Weib auch nicht schonend behandeln, das ist ein Versäumnis, sondern man soll ihr nur gleich das Maul zerreißen oder so! Immer sind die Frauen die Opfer Stets sind die Frauen die am tiefsten getroffenen Figuren. Sie sind die einzigen, die über sich hinausschauen wol len, an Ehrlichkeit und an eine bessere Welt glauben. In „Kasimir und Karoline“ (1932), einem Bilderbogen von 117 Szenen aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise, formuliert Karoline: „Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich – aber dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln und das Leben geht weiter, als wär man nie dabei gewesen.“ Auch Elisabeth in Ödön von Horváths Drama „Glaube Liebe Hoffnung“ ringt verzweifelt um ein menschenwür diges Leben (4) . 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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