Literaturräume, Schulbuch
296 DIe lIteratur zWIschen 1925 unD 1945 Nützliche Lyrik Keine Gefühlsgedichte Die Bemühung, objektiv sachliche Wahrnehmungen nüchtern wiederzugeben, prägt insbesondere die Lyrik. Es entstehen präzise Landschafts und Naturschilderungen, wie zum Beispiel in den Gedichten von Oskar Loerke (1884–1941), Elisabeth Langgässer (1899–1950), Günter Eich (1907–72), Peter Huchel (1903–81) und Georg Britting (1891–1964). Politische Themen und Glück und Unglück des Alltags schildert die Lyrik von Kurt Tucholsky (1890–1935). Die nüchternen Gedichte von Erich Kästner (1899–1974) wie „Primaner in Uniform“ und „Klassenzusammenkunft“ (1) sind bestimmt von Antimilitarismus, Antifaschismus und Kritik an der Ver dinglichung des Menschen durch Bürokratisierung, Großstadt und autoritäre Politik. Gedichte als Denkanstöße Distanz und Nüchternheit prägen auch die Lyrik von Bertolt Brecht (1898–1956). Als Beispiele finden Sie „Schlechte Zeit für Lyrik“ und „Morgens und abends zu lesen“ (2) . Seine Gedichte wollen politische und soziale Verantwortung erwecken. Die Verwendung von lyrischen Formen, die dem Publikum der Zeit bekannt waren – Chanson, Ballade – sollte die Verbreitung der Gedichte sichern. Da die lyrischen Texte der Neuen Sachlichkeit oft als Gelegenheitsgedichte spontan entstanden und als Ratgeber, Gedankenanstoß oder Warnung dienen sollten, werden sie auch oft mit dem Begriff „Gebrauchslyrik“ bezeichnet. Symptomatisch für den angepeilten Ge brauchswert der Lyrik sind schon die Titel der Lyriksammlungen. Kästner nennt eine Sammlung seiner Gedichte „Lyrische Hausapotheke“, Brecht verwendet für eine Gedichtreihe den Titel „Hauspostille“. Als Postillen bezeich nete man ursprünglich Schriften zur Erklärung von Bibeltexten. Brechts Postille will allerdings keine religiösen Texte erklären. Die „Hauspostille“ hat zutiefst irdische Themen. Sie ist gegliedert in fünf „Lektionen“, erzählt von Liebe, Mord, Lebensgenuss, Untergang und warnt vor „Verführern“ , die das „wahre Leben“ erst für nach dem Tode versprechen: „Lasst euch nicht verführen! Es gibt keine Wiederkehr!“ Das Drama: episches Theater und sozialkritische Volksstücke Brechts radikal neues Theater Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg dominierten expressionistische Dramen die Bühne. Für die Expressionisten war eine Veränderung der Welt und die Lösung politischer und sozialer Konflikte nur durch die moralische Erneuerung des Einzelnen möglich. Auf eine Analyse oder Darstellung der ge sellschaftlichen Bedingungen wurde im expressionistischen Drama wenig Wert gelegt. Doch der idealistische Appell der Expressionisten an den „neuen Menschen“ scheiterte in der Realität. Deshalb wurden im Drama bald neue Ziele verfolgt. Die gesellschaftlichen Verhältnisse und deren Auswirkungen auf den Einzelnen sollten dem Publikum bewusst gemacht werden. Aus die sen Überlegungen entstand das „epische Theater“ Bert Brechts, eine der radi kalsten Neuerungen in der Theatergeschichte. Die Zuschauer nicht „kidnappen“ und „besoffen machen“, sondern zum Denken und Handeln bringen Das Theater bis zu Brecht hatte die Poetik des Aristoteles als Richtlinie ge nommen. Aristoteles hatte als Ziel der Tragödie die Läuterung des Individu ums, die Katharsis, gesehen. Das Bühnengeschehen sollte die Zuschauer/Zu schauerinnen emotional zur „Einfühlung“ in Personen, Konflikte und Gesche hen einladen. Furcht und Mitleid sollten im Publikum erweckt werden. Brecht kritisiert, dass dieses „aristotelische Theater“ das Publikum als passiven Kon sumenten behandelt, es „hypnotisiert“ und aus der Realität wegführt. Brecht will, dass das Publikum „nicht mehr aus seiner Welt in die Welt der Kunst ent- führt, nicht mehr gekidnappt“ werden soll. Das epische Theater „versucht nicht INFO Aristotelisches und episches Theater Der Zuschauer des drama- tischen [= aristotelischen] Theaters sagt: „Ja, das habe ich auch schon gefühlt. – So bin ich. – Das ist natürlich. – Das wird immer so sein. – Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es keinen Ausweg für ihn gibt. – Das ist große Kunst: da ist alles selbstverständlich.“ Der Zuschauer des epischen Theaters sagt: „Das hätte ich nicht gedacht. – So darf man es nicht machen. – Das ist höchst auffällig, fast nicht zu glauben. – Das muß aufhören. – Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es doch einen Ausweg für ihn gäbe.“ Bertolt Brecht: Das epische Theater (1936) Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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