Literaturräume, Schulbuch
294 DIe lIteratur zWIschen 1925 unD 1945 zungen mit der NSIdeologie. Gottfried Benn kann sicher nicht als nationalsozialistischer Autor gelten. Doch er begrüßte aus Verachtung für seine Zeit und in seiner – expressionistischen – Hoffnung auf einen „neuen Men schen“ zunächst die NSIdeologie. Bald wandte er sich von den Nationalsozialisten ab, veröffentlichte nichts mehr, wurde 1938 aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen und erhielt Schreibverbot. Dennoch haben ohne Zweifel auch Autoren wie Benn als Vor und Mitläufer der NSIdeologie den Weg bereitet, was die Ge schichts und Literaturwissenschaft veranlasst hat, von einem weitgehenden „Versagen der Intellektuellen“ zu sprechen. Thomas Mann: Deutsche Ansprache. Ein Appell an die Vernunft (1930) 1 Veitstanz: zuckende, unkontrollierte Bewegungen aufgrund psychischer Störungen Eine neue Seelenlage der Menschheit, die mit […] Freiheit, Gerechtigkeit, Bildung, Optimismus, Fortschrittsglaube, nichts mehr zu schaffen haben sollte, wurde proklamiert und drückte sich […] als Abkehr vom Vernunftglauben […] aus. […] Ist nun, frage ich, […] das Wunschbild einer primitiven, blutreinen, herzens- und verstandesschlichten, hackenzusammenschlagenden, blauäugig gehor- samen und strammen Biederkeit […] zu verwirkli- chen möglich in einem alten, reifen, viel erfahrenen und hochbedürftigen Kulturvolk, das geistige und seelische Abenteuer hinter sich hat wie das deutsche, das eine weltbürgerliche und hohe Klassik, die tiefste und raffinierteste Romantik, Goethe, Schopenhauer, Nietzsche […] erlebt hat und im Blute trägt? […] Die Würde eines Volkes wie des unsrigen kann nicht die der Einfalt, kann nur die Würde des Wissens und des Geistes sein, und die weist den Veitstanz 1 des Fanatismus von sich. Gottfried Benn: Rundfunkrede an die Emigranten (Mai 1933) Verstehen Sie doch endlich […], dass es sich bei den Vorgängen in Deutschland gar nicht um politische Kniffe handelt, […] sondern es handelt sich um das Hervortreten eines neuen biologischen Typs. […] Ein Volk will sich züchten. […] Wollen Sie […] endlich doch verstehen, es handelt sich hier gar nicht um Regierungsformen, sondern um eine neue Vision von der Geburt des Menschen, vielleicht um eine alte, vielleicht um die letzte großartige Konzeption der weißen Rasse […]. Ein 13-Jähriger erlebt die Massenhysterie in Wien und schreibt als 37-Jähriger ein Gedicht darüber Die irrationale Atmosphäre, welche die Ideologie des Nationalsozialismus zu erzeugen versuchte, zeigte sich be sonders bei Massenveranstaltungen. Ernst Jandl beschreibt diese Emotionalisierung in seinem Gedicht „wien: heldenplatz“ (1962). Es bezieht sich auf den Jubel, mit dem nach der Annexion Österreichs durch NSDeutsch land Tausende am 15. März 1938 die Rede Hitlers auf dem Wiener Heldenplatz verfolgten. Jandl erlebte als Drei zehnjähriger diese Massenemotion mit. Ernst Jandl wien: heldenplatz der ganze heldenplatz zirka versaggerte in maschenhaftem männchenmeere drunter auch frauen die ans maskelknie zu heften heftig sich versuchten, hoffensdick und brüllzten wesentlich. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 2 4 6 8 10 2 4 AUFGABEN > Welche Begriffe stellt Mann einander gegenüber, um einerseits das aufklärerische Streben nach Vernunft, andererseits die humanitätsfeindliche Ideologie des Nationalsozialismus zu beschreiben? > Welche von Mann gebrauchten Adjektive und Nomen charakterisieren den auf Vernunft, Individualität und Persönlichkeit verzichtenden Menschentyp der NSIdeologie? > Welche geistigen und literarischen „Kronzeugen“ ruft Mann auf, um den Deutschen ihre humanistische Denktradition bewusst zu machen? > Welche Vokabel Benns machen seine damalige Nähe zum NSRassismus besonders deutlich? > Sehen Sie sich in Zusammenarbeit mit dem Fach „Geschichte“ auf Videos die Inszenierung der NSPartei tage in Nürnberg an. Welche pathetischen, den Todeskult feiernden Elemente fallen Ihnen dabei auf? Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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