Literaturräume, Schulbuch
28 DIe lIteratur Des hohen mIttelalters (1170–1250) 3 „Sie wurden eins, die vorher zwei waren.“ Gottfried von Straßburg: „Tristan“ (zwischen 1200 und 1210) Ein Autor in Distanz zur höfischen Gesellschaft Hartmann von Aue ist ein adeliger Dichter, Wolfram von Eschenbach vermutlich ebenso. Gottfried von Straßburg hingegen wird in den Handschriften seiner Werke stets „meister“ genannt, nicht „her“, wie es einem Ritter zustünde. Er ist ein umfassend gebildeter Bürgerlicher aus dem elsässischen Straßburg. Zur höfischen Gesellschaft verhält er sich kritisch. Ritterliche Sitten, wie Turniere und Kampfspiele, schildert er im Gegensatz zu seinen adeligen Dichterkollegen dis tanziert und kurz, obwohl in seinem fast 20.000 Verse umfassenden „Tristan“, entstanden zwischen 1200 und 1210, Platz dafür wäre. Lie ber bringt er, statt bei Tristans Erhebung in den Ritterstand die Auf nahmerituale ausführlich zu schildern, eine Beurteilung der Dichter seiner Zeit. Er lobt Hartmann wegen seiner „kristallînen wortelîn“ als den besten. Wolfram von Eschenbach attackiert er hingegen heftig: seine Dichtung vollführe allzu viele unkontrollierte „hôchsprünge“ und der Autor sei ein Erfinder unverbürgter Geschichten. Ein Roman, der verstört Vor allem aber gibt Gottfried im „Tristan“ der Liebe einen besonderen Stellenwert. Sie ist für ihn nicht eine kunst voll gespielte Beziehung, die in engen Grenzen ablaufen muss, um die höfische Gesellschaft nicht zu gefährden, und die vor allem aus dem Werben des Mannes besteht. Im „Tristan“ herrschen Betrug, List und Ehebruch und unbedingte seelische und körperliche Liebe, die auch das Leben kosten kann. Die Liebe kümmert sich nicht um die höfischen Ideale der „mâze“ . Dass ein solches Werk nichts für die höfische Gesellschaft ist, sieht auch Gott fried. Einmalig in der mittelalterlichen Dichtung, weist er darauf hin, dass sein Werk nur für besondere Zuhörer und Zuhörerinnen, die „edelen herzen“ , bestimmt sei. „Tristan“ im Überblick Ein junger Mann wirbt für einen alten Mann um eine junge Frau Der junge Tristan wird in einem Kampf verwundet und kann nur durch die Zauberkunst Isoldes, der Königin von Irland, geheilt werden. Als Spielmann Tantris verkleidet, findet er Hilfe und Heilung bei ihr. Er wird Lehrer ihrer Tochter, der jungen Isolde. Doch Tristan muss an den Hof seines Onkels, des Königs Marke von Cornwall, zurück kehren. Dort schwärmt er von Isolde. Marke beschließt, um Isoldes Hand anzuhalten. Tristan fährt nach Irland zurück und wirbt für König Marke um Isolde. Er soll Isolde per Schiff zu Marke bringen. Der Liebestrank Für einen Autor der damaligen Zeit war es nicht leicht, die herrschenden höfischen Tugenden, wie etwa Treue, literarisch offen in Frage zu stellen. Gottfried muss deshalb das illegale Liebespaar Tristan und Isolde „entlasten“. Zu diesem Zweck führt Gottfried neben dem Gral das zweite bis heute bekannte Symbol in die mittelalterliche Literatur ein, den Liebestrank. Auf der Rückreise trinkt Tristan ahnungslos und versehentlich mit Isolde vom Liebestrank, der für Isolde und Marke gedacht ist: Nu daz diu maget unde der man, Isolt unde Tristan, den tranc getrunken beide, sâ was ouch der werlde unmuoze dâ, Minne, aller herzen lâgærîn, und sleich z’ir beider herzen în. Als die junge Frau und der Mann, Isolde und Tristan, den Trank getrunken hatten, da war sofort die Unruhe der Welt da, die Liebe, die allen Herzen einen Hinterhalt legt, und schlich sich in ihre beiden Herzen hinein. Und ehe sie es ahnten, stieß sie ihnen ihr Siegesbanner hinein und zog sie beide in ihre Gewalt. Sie wurden eins, die vorher zwei waren. Gottfried von Straßburg 2 4 6 2 4 6 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verl gs öbv
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