Literaturräume, Schulbuch

274 eXpressIonIsmus unD DaDaIsmus (1910–1920/1925) Kleine Aster Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt. Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhelllila Aster zwischen die Zähne geklemmt. Als ich von der Brust aus unter der Haut mit einem langen Messer Zunge und Gaumen herausschnitt, muss ich sie angestoßen haben, denn sie glitt in das nebenliegende Gehirn. Ich packte sie ihm in die Brusthöhle zwischen die Holzwolle, als man zunähte. Trinke dich satt in deiner Vase! Ruhe sanft, kleine Aster! Die Reaktion der Zeitgenossen Missfallen und Empörung waren die Reaktion auf die Veröffent­ lichung dieser beiden Gedichte. Konservative Zeitungen ver­ langten die Einweisung Benns in die Psychiatrie, „fortschritt­ liche“ Zeitungen warfen dem Autor politisch schädliche Men­ schenverachtung vor. Benns „Wirklichkeitszertrümmerung“, wie er selbst seine Dichtung nannte, die Wahl makabrer Themen, die Verbindung von Wissenschaftsund banaler Alltagssprache mit poetischen Vokabeln schockierten. Als Kunstwerk sah man Benns Gedichte nicht. 1916 wurden die „MorgueGedichte“ nachträglich [!] beschlagnahmt. 1933 wandte sich Benn kurz­ fristig der NSIdeologie zu, wurde aber von der Zensur bald mit Schreibverbot belegt und als „widernatürliches Schwein“ be­ schimpft. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Benn „wiederent­ deckt“, mit Preisen überhäuft und lange als möglicher Nobel­ preisträger gehandelt. 2 4 6 8 10 12 14 INFO Das „Vergnügen“ am Schockierenden und Ekeligen Benns Gedichte „Schöne Jugend“, „Kleine Aster“ oder Gedichte wie „Nachtcafé“, „Fleisch“, „Saal der kreißenden Frauen“ stellen nichts Schönes dar, im Gegenteil. Würden wir in der Realität an der Wasserlei­ che oder der Leiche des Bierfahrers vorbeigehen, so würden wir Bestürzung empfinden. So unange­ nehm die Gegenstände dieser Gedichte sind, so sehr lösen sie offensichtlich einen ästhetischen Reiz aus, es wäre sonst kaum erklärlich, dass sie in vielen Anthologien abgedruckt sind. So wie uns das Scheitern von Personen in Kunst­ werken ästhetisch berührt – siehe Grenzenlos S. 243 f. – so auch das Hässliche. Auch diese Texte bauen Spannung auf, das Vergnügen besteht im Spannungsabbau nach dem Lesen. Auch der Genuss der Überwindung spielt eine Rolle, wenn wir „Ekel­ haftes“ akzeptieren. Der Philosoph Theodor W. Adorno verweist dabei auf die Zigarre und den Whisky, die beim ersten Mal nicht schmecken, bei jedem weiteren Mal aber im Unbewussten die Überwindung des Ekels positiv in Erinnerung rufen. AUFGABEN > Welche Erwartungen lösen im Allgemeinen Gedichttitel wie „Schöne Jugend“ oder „Aster“ aus? > Auf wen bezieht sich der Titel „Schöne Jugend“? Weshalb könnte man bei beiden Titeln von „Leser­ täuschung“ sprechen? > Welche inhaltlichen Parallelen weisen die Gedichte auf? Was ist jeweils die „Funktion“ der Menschen? > „Wer“ sind eigentlich die „Hauptdarsteller“ in beiden Gedichten? > Wer wird in der „Kleinen Aster“ mit religiösliturgischen Worten bestattet? > Wer/was entlockt dem „Sprecher“ der Gedichte Anteilnahme? > Worauf spielt Ernst Stadler in seiner Bewertung von Benns Gedichten mit dem Begriff von den „Blaublümeleinrittern“ an? > Halten Sie Desillusionierung, wie sie Benn vornimmt, für ein berechtigtes Anliegen von Literatur oder sollte Ihrer Ansicht nach Makabres, Zynisches wie bei Benn vermieden werden? Begründen Sie Ihre Ansicht! Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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