Literaturräume, Schulbuch
Das Wetter schwelt in seinen Augenbrauen. Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt. Die Stürme flattern, die wie Geier schauen Von seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt. Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust. Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagt Durch eine Straße. Und der Glutqualm braust Und frisst sie auf, bis spät der Morgen tagt. 273 Der leseraum 14 16 Gottfried Benn: „Schöne Jugend“ und „Kleine Aster“ – Dichtung als ärztliches Protokoll 1912, dem Jahr, in dem Gottfried Benn sein Medizinstudium abschließt, erscheint sein Gedichtband „Morgue“. Ihm entstammen auch die folgenden Gedichte. Als „Morgue“ bezeichnete man das Leichenschauhaus. Benns Texte widersprechen jedem idealistischen Menschenbild. Krankheit, Hässlichkeit, Tod sind die Themen. Der Mensch erscheint als bedauernsund verachtenswert. Utopische politische Ideale, Pathos, Romantik hält Benn für verlogen. Der Krieg und seine Praxis als Arzt für Haut und Geschlechtskrankheiten vermittelten ihm eine andere, grausame Realität. Benn räumt, wie sein Dichterkollege Ernst Stadler (1883–1914) formulierte, „gründ- lich mit dem lyrischen Ideal der Blaublümeleinritter“ auf. Schöne Jugend Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte, sah so angeknabbert aus. Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig. Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell fand man ein Nest von jungen Ratten. Ein kleines Schwesterchen lag tot. Die anderen lebten von Leber und Niere, tranken das kalte Blut und hatten hier eine schöne Jugend verlebt. Und schön und schnell kam auch ihr Tod: Man warf sie allesamt ins Wasser. Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten! Solange die Art, wie man in der Stadt lebte, als selbstverständlich angesehen wurde, solange taucht sie auch als Motiv der Literatur nur selten auf. Erst als die mit der Stadt verbundenen Fragen, zum Beispiel Wohnungsfrage, Hygiene, bewusst werden, tritt die Stadt in die Literatur. Die eigentliche Epoche der „Stadtliteratur“ ist der Expressionismus. Er beschreibt die Stadt oft als bedrohlich, aber auch als faszinierend. Der „Stadtroman“ schlechthin ist „Berlin Alexanderplatz“ von Alfred Döblin (1929). Döblin, der als Expressionist begonnen hatte, schildert in einer Montage von inneren Monologen, Wissenschaftssprache, Gaunerjargon den Weg des Arbeiters Franz Biberkopf vom Gauner zum „neuen“ Menschen. Er will sich nicht mehr verführen lassen: „Dem Mensch ist gegeben die Vernunft, die Ochsen bilden statt dessen eine Zunft.“ Die Stadt als Motiv der Literatur INFO Gottfried Benn 18 20 2 4 6 8 10 12 AUFGABEN > Beschreiben Sie den Gott der Stadt: die ihm zugeordneten Farben, seine Aktionen, seine Stimmung und das von ihm verursachte Ende der Stadt! > Auf welche Aspekte einer Stadt geht der Autor ein, auf welche nicht? Welche Einstellung zur Stadt lässt sich daraus erkennen? > Halten Sie die Form des Textes für ebenso „verstörend“ wie den Inhalt? Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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