Literaturräume, Schulbuch
272 eXpressIonIsmus unD DaDaIsmus (1910–1920/1925) Der leseraum 1 „Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut.“ Jakob van Hoddis: „Weltende“ (1911), Georg Heym: „Der Gott der Stadt“ (1911), Gottfried Benn: „Aster“ und „Schöne Jugend“ (1912) Jakob van Hoddis: „Weltende“ – traditionelle Form, verblüffender Inhalt Im Mai 1910 herrscht in Europa Panik. Der Halleysche Komet erscheint wieder nach 76 Jahren. Es wird befürch tet, dass es beim Durchgang der Erde durch den Kometenschweif zu vernichtenden Explosionen kommen könnte. Tastächlich ist der Kometenschweif riesig. Er bedeckt fast den ganzen Himmel und verdunkelt zeitweise die Sonne. Das Gedicht „Weltende“, das die Anthologie „Menschheitsdämmerung“ eröffnet, ironisiert die in der Bevölkerung grassierende Angst vor dem Kometen. Van Hoddis schreibt kein Erlebnisgedicht, seine distanzierten Katastrophenbilder im Stil eines Berichts schildern den Untergang der alten bürgerlichen Welt. Alles wankt, die Teile der gewohnten Welt wirbeln durcheinander. Der Bürger, der die gewohnte Welt bewohnt, hat seine Orien tierung verloren. Die Dichterkollegen sind begeistert: „Diese zwei Strophen, o diese acht Zeilen schienen uns in andere Menschen verwandelt zu haben, uns emporgehoben zu haben aus einer Welt stumpfer Bürgerlichkeit, die wir verachteten […].“ Weltende Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut. In allen Lüften hallt es wie Geschrei. Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei, Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut. Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken. Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. Die Eisenbahnen fallen von den Brücken. Georg Heym: „Der Gott der Stadt“ – die Großstadt tritt in die Lyrik Das Gedicht „Gott der Stadt“ hielt der Dichter selbst für eines seiner besten. Drucken lassen wollte er es ur sprünglich aber nicht, weil die „Zeit vielleicht noch nicht empfänglich ist“ . Tatsächlich fand Heym nur geringen Widerhall beim Publikum. Zu albtraumhaft, voll von Bedrohung, Verfall, Zerstörung war für viele die Grundstim mung seiner Lyrik. Der Gott der Stadt Auf einem Häuserblocke sitzt er breit. Die Winde lagern schwarz um seine Stirn. Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit Die letzten Häuser in das Land verirrn. Vom Abend glänzt der rote Bauch dem Baal 1 , Die großen Städte knien um ihn her. Der Kirchenglocken ungeheure Zahl Wogt auf zu ihm aus schwarzer Türme Meer. Wie Korybanten-Tanz 2 dröhnt die Musik Der Millionen durch die Straßen laut. Der Schlote Rauch, die Wolken der Fabrik Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut. 1 Baal: altorientalischer Gott, dem Menschenopfer dargebracht wurden 2 ekstatische Tänze zu Ehren der antiken Muttergottheit Kybele, oft mit einer Taufe durch Stier- oder Widderblut verbunden 2 4 6 8 2 4 6 8 10 12 AUFGABEN > Welche Auswirkungen hat der „Sturm“? > Welche Verben irritieren und passen kaum zum dazugehörigen Subjekt? > Welche Verszeilen schildern ironisch ein eher belangloses Problem? Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=