Literaturräume, Schulbuch

Die höchste Kunst wird diejenige sein, die […] die tausendfachen Probleme der Zeit präsentiert, der man anmerkt, dass sie sich von den Explosionen der letzten Woche werfen ließ, die ihre Glieder immer wieder unter dem Stoß des letzten Tages zusammen- sucht. […] Hat der Expressionismus unsere Erwar- tungen auf eine solche Kunst erfüllt […]? Nein! Nein! Nein! […] Gegen die blutleere Abstraktion des Expressionismus! Gegen die weltverbessernden Theorien literarischer Hohlköpfe! Für den Dadais- mus in Wort und Bild, für das dadaistische Gesche- hen in der Welt. 271 Das funDament Die provokanten Methoden der Anti-Kunst Die bewusste Provokation braucht neue Methoden. In einer Zeit, in der ihrer Meinung nach Krieg, Zerstörung, Geschäftemacherei mit der „Vernunft“ begründet werden, setzen die Dadaisten auf die „Unvernunft“. Einer chaotischen Zeit kann nur eine chaotische Kunst Widerstand leisten. Logik gibt es in dadaistischen Texten nicht mehr. Durchgehenden Sinn gibt es genauso wenig; die Wörter werden in ihre Bestandteile zerlegt, bis nur noch einzelne Laute übrig bleiben. Statt eines „Sinngedichts“ entsteht das „Lautgedicht“. Oft konzentriert man sich nur auf das Wort in seiner graphischen Gestalt. So entstehen die „Buchstabengedichte“. Der Grad der „Ent­ stellung“ der gewohnten Wörter ist unterschiedlich. In manchen Gedichten ist mit wenig schwieriger Analyse eine Interpretation möglich, manche Texte hingegen lassen sich gar nicht mehr aufschlüsseln. Die „Karawane“ von Hugo Ball (1886–1927) und das „Gedicht“ von Kurt Schwitters (1887–1948) zeigen Ihnen diese Spannweite (6) . Manche Gedichte werden bewusst in schwer lesbarer Handschrift geschrieben, damit der Drucker selbst kreativ werden muss. Während die Dadaisten ihre Gedichte vortragen, schlüpfen sie in bizarre Kleidung und vollführen Verrenkungen, um ein „gymnastisches“ Gedicht entstehen zu lassen. Sie führen mit Pauken, Kinderrasseln und Topfdeckeln den Lärm – französisch le bruit – in die Kunst ein und lesen mehrere Texte zugleich vor. Der Grund: Das Leben ist nichts für zartbesaitete Seelen und in der Welt passiert so vieles gleichzeitig. So entstehen das „bruitistische“ (= „lärmende“) und das „simultanistische“ (= „gleichzeitige“) Gedicht. 2 4 6 8 10 12 Das BRUITISTISCHE Gedicht schildert eine Tram- bahn wie sie ist, die Essenz der Trambahn mit dem Gähnen des Rentier 1 Schulze und dem Schrei der Bremsen […]. Das SIMULTANISTISCHE Gedicht lehrt den Sinn des Durcheinanderjagens aller Dinge, während Herr Schulze liest, fährt der Balkanzug über die Brücke bei Nisch, ein Schwein jammert im Keller des Schlächters Nuttke […]. Der künstlerische Zufall Auch der Zufall ist für die Dadaisten ein wichtiges Prinzip für die Entstehung von Kunstwerken, wie die folgende Anleitung von Tristan Tzara zeigt. Damit ist es auch für jeden möglich, ein Kunstwerk zu schaffen: Um ein dadaistisches Gedicht zu machen Nehmt eine Zeitung. Nehmt Scheren. Wählt in dieser Zeitung einen Artikel von der Länge aus, die Ihr Eurem Gedicht zu geben beabsichtigt. Schneidet den Artikel aus. Schneidet dann sorgfältig jedes Wort dieses Artikels aus und gebt sie in eine Tüte. Schüttelt leicht. Nehmt dann einen Schnipsel nach dem anderen heraus. Schreibt gewissenhaft ab in der Reihenfolge, in der sie aus der Tüte gekommen sind. Das Gedicht wird Euch ähneln. Und damit seid Ihr ein unendlich origineller Schriftsteller mit einer charmanten, wenn auch von den Leuten unverstan- denen Sensibilität. 2 4 2 4 6 6 8 8 10 12 1 Rentner AUFGABEN > Welche Forderungen stellen die Dadaisten an die Kunst? > Was kann Kunst ihrer Meinung nach nicht? AUFGABE > Schreiben Sie Ihr DadaGedicht nach dem Rezept von Tzara! Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des V rlags öbv

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