Literaturräume, Schulbuch

269 DIe lIteraturübersIcht DIe lIteraturübersIcht Anklage, Pathos, Hässlichkeit und die Zertrümmerung der Grammatik Die Aufgabe der Literatur: demolieren, um Neues zu schaffen „Aktion“, „Der Sturm“, „Die Revolution“, „Umsturz und Aufbau“, „Der jüngste Tag“, so lauten die Titel der wich­ tigsten literarischen Zeitschriften und Buchreihen des Expressionismus. Die Titel zeigen das literarische Pro­ gramm: Opposition gegen Realismus und Naturalismus, die sich mit der Beschreibung der Realität begnügen, Opposition gegen das Fin de Siècle, das sich in die Welt der Ästhetik flüchtet, und Opposition vor allem gegen Goethe: [H]eute geht’s […] gegen Goethe, der als Freund der Ordnung zum Urbild des Bürgers, Philisters, Spießers wird, ein jämmerlicher Fall […] in boden- lose Feigheit und Beschränktheit. Weg mit seinem Gipfskopfe […]. Weg mit allen, die in seinem Gefolge gehen. Weg mit Gottfried Keller, diesem erlauchten Blödian […] und Säufer. Weg überhaupt mit den so genannten Dichtern! Schluss! Unsere Kultur ist Gerümpel.“ […] Der junge Dichter muss demolieren […]. Der junge Dichter hat nur eine Mission: ruhestörenden Lärm zu verursachen […] – unbekümmert um das Schwanken und Krachen vermorschter Gebeine. Vor allem eines halten die Expressionisten für unsinnig: die Welt einfach abzubilden. Denn „die Welt ist da. Es wäre sinnlos, sie zu wiederholen.“ Für sich selbst haben die Expressionisten viele Namen: Neopathetiker, Aktivis­ ten, Sturmkünstler, Abstrakte. Die Vorbilder Die Literatur des Expressionismus sucht Vorbilder in Epochen, die ebenso von Kriegen oder Aufbegehren ge­ prägt sind, wie Barock und Sturm und Drang, und in den Werken der literarischen Außenseiter. Diese verdanken vielfach den Expressionisten ihre Erstoder Wiederentdeckung: Hölderlin, Kleist, E. T. A. Hoffmann, Büchner. Die Expressionisten schätzen die Kunst der Kinder und der „Naturvölker“, von den Inuit bis zur gerade entdeckten Lyrik afrikanischer Völker. Die Lyrik: appellierend, anklagend, desillusionierend 1919 erscheint die repräsentativste Sammlung expressionistischer Gedichte. Sie trägt den Titel „Menschheits­ dämmerung“. Die vier Abschnitte zeigen die Thematik der expressionistischen Lyrik: „Sturz und Schrei“, „Erwe­ ckung des Herzens“, „Aufruf und Empörung“, „Liebe den Menschen“. Nicht „rühren“ sollen die Gedichte, sondern „aufrühren“ und „umwühlen“ . Optimistischer Glaube an einen kommenden „neuen“ Menschen ist ein zentrales Thema. Charakteristisch dafür ist die Lyrik Franz Werfels. Die Konfrontation mit dem Bedrohlichen, Absto­ ßenden und Grotesken bildet die zweite Facette der Lyrik, wie die Gedichte „Weltende“ von Jakob van Hoddis (1887–1942), „Der Gott der Stadt“ von Georg Heym (1887–1912) und „Aster“ und „Schöne Jugend“ von Gottfried Benn (1886–1956) zeigen (1) . Die Form der Gedichte ist sehr unterschiedlich: Auf der einen Seite zeigen sie metaphernreiche, manchmal pathetische Sprache. Ihnen stehen Texte gegenüber, die auf alle schmü­ ckenden Beiwörter verzichten, den üblichen Satzbau zerstören und die Logik negieren. „Zerschlagt die Gramma- tik, die die Sprache hemmt! […] Kein Subjekt, kein Objekt, kein Prädikat, keine Deklination, keine Konjugation, keine Grammatik und, ach! keine Logik […]“ , so definiert einer der Autoren das Programm dieser Gedichte. Die Begrün­ dung für diese Sprachzertrümmerung: Die Welt ist nicht nur mit dem Denken und der Logik zu erfassen: „Welt […] ist nicht bloß logisch, sie ist alogisch, überlogisch. Sprache, Gedicht, Welt wollen nicht [nur] durch Verstand aufgenommen sein.“ Zu den extremsten Beispielen dieser aufs Äußerste komprimierten, grammatiklosen Lyrik zählen die Gedichte von August Stramm (1874–1915), wie „Patrouille“ und „Zwist“ (2) . Eher selten sind expres­ sionistische Liebesgedichte. Sie sind vor allem mit dem Namen Else Lasker-Schüler (1876–1945) verbunden. „Ein alter Tibetteppich“ ist eines der berühmtesten ihrer Gedichte (3) . 2 4 6 8 10 12 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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