Literaturräume, Schulbuch
268 eXpressIonIsmus unD DaDaIsmus (1910–1920/1925) Der Ruf nach „Weltverbesserung“ Die Expressionisten sehen ihre Revolte als Aufruf zur Erneue rung. Dabei sind sie nicht nur von Nietzsche beeinflusst, son dern auch von den Ideen des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard (1813–55), der zu Anfang des 20. Jahrhunderts erst mals ins Deutsche übersetzt wurde. Er stellt die Freiheit in den Mittelpunkt seines Denkens. Im Gegensatz zum Tier kann der Mensch sich für eine bestimmte Lebensweise entscheiden. Er kann in einem oberflächlichen Genussleben verharren, der von Kierkegaard so genannten „ästhetischen“ Existenz. Er kann aber auch in einer „ethischen“ Existenz solidarisch am Aufbau einer humanen Gesellschaft mitarbeiten. Und er kann in der „religi ösen Existenz“, der für Kierkegaard höchsten Stufe, freiwillig den „Sprung“ in den Glauben wagen. Auch die Expressionisten stel len dem oberflächlichen alten einen kommenden neuen Men schen gegenüber, der sich vom alten grundlegend unterscheidet und gegenüber den Mitmenschen solidarisch ist. Herauf […], neues Zeitalter aller der Kräfte, die den Menschen erst zum Menschen machen! War der Mensch bisher wirklich „Mensch“? War er nicht herzensträge, hart und böse […]? War er nicht bisher den Mitmenschen fremd, getrennt durch Grenzpfähle, Größe seines Einkommens, Art seiner Arbeit? […] Wusste er überhaupt etwas vom anderen? […] War er nicht sich ein Fremder und waren nicht alle Menschen ihm im Wege? War er nicht gebunden, unfrei, Glied nur der Gesell- schaft? Herauf darum, du neuer Mensch, du Glied der Gemeinschaft von Brüdern, Freunden und Kameraden! Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll. […] Wahrlich, ein schmutziger Strom ist der Mensch. Man muss schon ein Meer sein, um einen schmutzi- gen Strom aufnehmen zu können, ohne unrein zu werden. Was ist das Größte, das ihr erleben könnt? Das ist die Stunde der großen Verachtung. Die Stunde, wo ihr sagt: „Was liegt an meinem Glücke! Es ist Armut und Schmutz und ein erbärmliches Behagen. Aber mein Glück sollte das Dasein selber rechtfertigen!“ Die Stunde, wo ihr sagt: „Was liegt an meiner Vernunft! Begehrt sie nach Wissen wie der Löwe nach seiner Nahrung? Sie ist Armut und Schmutz und ein erbärmliches Behagen!“ Die Stunde, wo ihr sagt: „Was liegt an meiner Tugend! Noch hat sie mich nicht rasen gemacht. […] Die Stunde, wo ihr sagt: „Was liegt an meiner Gerechtig- keit! Ich sehe nicht, dass ich Glut und Kohle wäre. Aber der Gerechte ist Glut und Kohle!“ Spracht ihr schon so? Schriet ihr schon so? Ach, dass ich euch schon so schreien gehört hätte! Nicht eure Sünde – eure Genügsamkeit schreit gen Himmel, euer Geiz selbst in eurer Sünde schreit gen Himmel. Wo ist doch der Blitz, der euch mit seiner Zunge lecke? […] Seht, ich lehre euch den Übermenschen: der ist dieser Blitz […]! INFO Der Begriff Expressionismus wurde von der bildenden Kunst auf die Literatur übertragen. Erstmals ge brauchte ihn der französische Maler JulienAuguste Hervé 1901. Seine Bilder sollten ausdrücken, wie er die Welt erlebte, was beim Malen in ihm vorging. Bedeutende österreichische Expressio nisten sind Egon Schiele und Oskar Kokoschka. Die ersten „expressionis tischen“ Bilder gab es aber schon früher. Anfang 1895 wurde in Wien ein Bild von Ludwig von Hofmann ausgestellt, das rote Baumstämme zeigte. Das Publikum protestierte. Die Bäume seien unwirklich und man dürfe nicht malen, was es nicht gibt. Wirkliche Stämme seien braun – also müsse man sie braun malen. Hermann Bahr rechtfertigte die Darstellung der roten Bäume mit dem Hinweis, dass die Künstler natürlich ihr Inneres so ausdrücken könnten, wie es ihnen wichtig erscheint: „Warum sollten nun rote Bäume gegen das Wesen der Kunst sein? Welches Gesetz will sie verbieten? Warum sollten sie unkünstle- risch sein? […] Künstler haben sich nie gescheut, den Stoff zu verändern, den die Sinne reichen […]. (W)enn man rote Bäume malt, wird Seelisches in eine […] Form gebracht.“ 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 2 4 6 8 10 AUFGABEN > Welche Eigenschaften kennzeichnen laut Text den „alten“ Menschen? > Welche zwei Begriffe stellt der Text antithetisch einander gegenüber? > Definieren Sie die Begriffe Gesellschaft und Gemeinschaft: zunächst spontan, dann mit Hilfe von Nach schlagewerken und arbeiten Sie den Unterschied der beiden Begriffe heraus! Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des V rlags öbv
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