Literaturräume, Schulbuch

262 Symbolismus, Impressionismus, Fin de Siècle, Wiener Moderne Adelheid Popp (1869–1939) Sie ist das fünfzehnte Kind einer armen Weberfamilie. Ihr Vater, ein schwerer Trinker, tyrannisiert die Familie. Er stirbt, als Adelheid Popp sechs Jahre alt ist. Nach nur dreijährigem Schulbesuch muss die Zehnjährige als Dienst­ mädchen, Näherin und in Fabriken arbeiten und die Mutter beim Unterhalt der Familie unterstützen. Mit drei­ zehn ist sie gesundheitlich am Ende. Sie kommt mit Ideen des Sozialismus in Berührung und beschafft sich wei­ teren Lesestoff aus der Bibliothek des Arbeitervereins. Ihre Leseinteressen verändern sich: Von der billigen Unter­ haltungsliteratur gelangt sie über die von ihr sehr geschätzten Goethe und Schiller zu kritischen politischen Schriften. 1893 beteiligt sie sich an der Organisation eines der ersten Frauenstreiks. In einer Textilfabrik hatte eine junge Arbeiterin zum Streik aufgerufen und Adelheid Popp um Hilfe gebeten. An dem dreiwöchigen erfolg­ reichen Streik beteiligen sich schließlich über 700 Wiener Arbeiterinnen. Sie fordern eine Verkürzung der Ar­ beitszeit und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Popp kämpft weiter redend, schreibend und handelnd gegen die soziale Benachteiligung und politische Rechtlosigkeit der Frauen, die weder das aktive noch das pas­ sive Wahlrecht haben. 1893 heiratet sie den sozialdemokratischen Funktionär Julius Popp. Ihr Gatte, ein schwer­ kranker Mann, mit dem sie zwei Kinder hat, stirbt bereits nach neunjähriger Ehe. Popps 1909 unter dem Titel „Jugendgeschichte einer Arbeiterin“ anonym veröffentlichte Erinnerungen sind ein wichtiges Zeugnis, wie sich Frauen aus sozial benachteiligten Schichten ihrer Situation bewusst werden und Ver­ änderungen verlangen. In der folgenden Stelle berichtet Popp über ihren Mann und die ersten Ehejahre: Die Frauen hatten keinen teilnehmenderen Freund als ihn und oft erzählte er mir, wie es ihn immer geschmerzt habe, wenn er Frauen […] auf den Knien im Schmutz herumrutschen sah, um den Fußboden zu reinigen. In bitteren Worten sprach er von den Männern, die ihren halben Wochenlohn vertranken oder verspielten, indes Frau und Kinder zu Hause darbten. Er achtete nicht nur in der erwerbenden Frau die Arbeiterin, sondern auch in der im Haushalt tätigen sah er die Arbeitssklavin und er empörte sich über die Ungerechtigkeit, dass man ihre ermüdende und oft aufreibende Tätigkeit als Spielerei betrachte. Wenn ich morgens mit ihm zusammen von daheim fortging und schon unser Zimmer aufgeräumt hatte, während er beim Lesen einer Zeitung gesessen, sah er das nie als eine Selbstverständlichkeit an, sondern als eine über meine Pflicht gehende Leistung. Meine Mutter führte unsere Wirtschaft, aber in ihren festgewurzel- ten Anschauungen, dass die Frau ins Haus gehöre, vermochte sie nicht, ihre Verbitterung darüber zu unterdrücken, dass ich nicht ausschließlich „beim Herd“ war. Um Verdrießlichkeiten vorzubeugen, musste ich manche Stunde und auch manchen halben Tag der häuslichen Arbeit widmen, die andere ebenso gut hätten besorgen können. Bei Nacht musste ich dann nachholen, was ich dadurch […] an meiner Weiterbildung versäumt hatte. […] Als ich im vierten Jahr unserer Ehe mein erstes Kind erwartete, beschäftigte ich mich viel mit dem Hauswesen und löste die Mutter beim Kochen ab. Jetzt erregte das ihre Eifersucht, was sie zuerst so ersehnt hatte. Sie sah sich durch mich verdrängt und wenn mein Mann anerkennend von meinen Fähigkeiten als Hausfrau sprach, so versuchte sie meine Kenntnisse herunterzusetzen. […] Ich litt sehr unter diesen Verfolgungen meiner Mutter, die nicht einer Bösartigkeit entsprangen, sondern dem Schmerz über die Enttäuschung, die sie an mir erlebt hatte. Sie hatte so sehr nach meiner Verheiratung verlangt; sie hatte erwartet, dass ich dadurch eine Frau wie jede andere sein würde und dass meine Versammlungstätigkeit ein Ende finden werde. Nun war ich verheiratet, aber ich war nicht weniger tätig als früher und mein Mann lebte derselben Aufgabe. Wenn wir nachts heim kamen, erwartete sie uns in ihrem Bette sitzend und verzweiflungsvolle Klagen ausstoßend. Sie machte uns beiden schwere Vorwür- fe. […] Sie höhnte und spottete, als mich mein Mann bestärkte, mich von einem Lehrer unterrich- ten zu lassen, weil ich mich in Orthographie und Grammatik so schwach fühlte. Mein Mann aber bestärkte mich auch in meiner Lust, fremde Sprachen zu erlernen. Er war von dem Gedanken geleitet, dass ich mit erhöhter Bildung und vermehrtem Wissen dem Proletariat um so besser werde dienen können. Als wir später Kinder hatten, meinte ich oft unter der doppelten Bürde zusammenbrechen zu müssen. Manchmal saß ich mit dem unruhigen Säugling im Arm beim Schreibtisch und schrieb Artikel, indes die ganze häusliche Arbeit noch zu tun war. Ich hatte außer meiner Mutter keine Hilfe im Hauswesen. Die Mutter war aber über siebzig Jahre alt und kränklich. Nach meines Mannes und meinem Willen hätte sie sich schon lange jeder Arbeit enthalten müssen. Sie wollte aber nicht dulden, dass jemand anders an ihre 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verl gs öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=