Literaturräume, Schulbuch
253 Der Leseraum Provokation und Schande Der Wiener Leutnant Gustl sitzt in einem Konzert und langweilt sich. Die Karte hat er geschenkt bekommen. Seine Gedanken laufen hin und her zwischen dem Geschehen auf der Bühne und in den umliegenden Logen und kommen immer wieder auf das am nächsten Tag bevorstehende Duell zurück, das er einem Doktor zu liefern hat. Dieser hat sich abschätzig über das österreichische Offizierskorps geäußert. Nach dem Konzert gibt es ein Gedränge an der Garderobe. Gustl kommt mit einem ihm vom Sehen bekannten Bäckermeister in Streit. Der packt Gustls Säbel, eine Schande für jeden Offizier. „Herr Leutnant, wenn Sie das geringste Aufsehen machen, so zieh’ ich den Säbel aus der Scheide, zerbrech’ ihn und schick’ die Stück’ an Ihr Regi- mentskommando. Versteh’n Sie mich, Sie dummer Bub?“ Was hat er g’sagt? Mir scheint, ich träum’! Red’t er wirklich zu mir? Ich sollt’ was antworten … Aber der Kerl macht ja Ernst – der zieht wirklich den Säbel heraus. Herrgott – er tut’s! … Ich spür’s, er reißt schon d’ran! Was red’t er denn? … Um Gottes willen, nur kein’ Skandal – Was red’t er denn noch immer? „Aber ich will Ihnen die Karriere nicht verderben … Also, schön brav sein! … So, hab’n S’ keine Angst, ’s hat niemand was gehört … es ist schon alles gut … so! Und damit keiner glaubt, dass wir uns gestritten haben, werd’ ich jetzt sehr freundlich mit Ihnen sein! – Habe die Ehre, Herr Leutnant, hat mich sehr gefreut – habe die Ehre!“ […] Was, ich bin schon auf der Straße? Wie bin ich denn da herausgekommen? – So kühl ist es … ah, der Wind, der ist gut …Wer ist denn das da drüben? Warum schau’n denn die zu mir herüber? Am End’ haben die was gehört … Nein, es kann niemand was gehört haben … ich weiß ja, ich hab’ mich gleich nachher umgeschaut! Keiner hat sich um mich gekümmert, niemand hat was gehört … Aber gesagt hat er’s, wenn’s auch niemand gehört hat; gesagt hat er’s doch. Und ich bin dagestanden und hab’ mir’s gefallen lassen, wie wenn mich einer vor den Kopf geschlagen hätt’! … Aber ich hab’ ja nichts sagen können, nichts tun können; es war ja noch das einzige, was mir übrig geblieben ist: stad sein, stad sein! … ’s ist fürchterlich, es ist nicht zum Aushalten; ich muss ihn totschlagen, wo ich ihn treff! … Mir sagt das einer! Mir sagt das so ein Kerl, so ein Hund! Und er kennt mich Herrgott noch einmal, er kennt mich, er weiß, wer ich bin! Er kann jedem Menschen erzählen, dass er mir das g’sagt hat! … Nein, nein, das wird er ja nicht tun, sonst hätt’ er auch nicht so leise geredet … er hat auch nur wollen, dass ich es allein hör’, … Aber wer garantiert mir, dass er’s nicht doch erzählt, heut’ oder morgen, seiner Frau, seiner Tochter, seinen Bekannten im Kaffeehaus. – Um Gottes willen, morgen seh’ ich ihn ja wieder! Wenn ich morgen ins Kaffeehaus komm’, sitzt er wieder dort wie alle Tag’ und spielt seinen Tapper mit dem Herrn Schlesinger und mit dem Kunstblumenhändler … Nein, nein, das geht ja nicht, das geht ja nicht …Wenn ich ihn seh’, so hau’ ich ihn zusammen … Nein, das darf ich ja nicht … gleich hätt’ ich’s tun müssen, gleich! …Wenn’s nur gegangen wär’! […] Wo lauf ’ ich denn da herum? Was tu’ ich denn auf der Straße? – Ja, aber wo soll ich denn hin? Hab’ ich nicht zum Leidinger wollen? Haha, unter Menschen mich niedersetzen … ich glaub’, ein jeder müsst’ mir’s anseh’n … Ja, aber irgendwas muss doch gescheh’n …Was soll denn gescheh’n? … Nichts, nichts – es hat ja niemand was gehört … es weiß ja niemand was … in dem Moment weiß niemand was … […] Unsinn! Unsinn! Kein Mensch weiß was, kein Mensch weiß was! – Es laufen viele herum, denen ärgere Sachen passiert sind, als mir … […] Heiliger Himmel, es ist doch ganz egal, ob ein anderer was weiß! … ich weiß es doch, und das ist die Hauptsache! […] Keine ruhige Minute hätt’ ich mehr im Leben … immer hätt’ ich die Angst, dass es doch einer erfahren könnt’, so oder so … und dass mir’s einer einmal ins Gesicht sagt, was heut’ Abend gescheh’n ist! – Was für ein glücklicher Mensch bin ich vor einer Stund’ gewesen … Muss mir der Kopetzky die Karte schenken – und die Steffi muss mir absagen, das Mensch! – Von so was hängt man ab … Nachmittag war noch alles gut und schön, und jetzt bin ich ein verlorener Mensch und muss mich totschießen … Warum renn’ ich denn so? Es lauft mir ja nichts davon …Wieviel schlagt’s denn? … 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11 … elf, elf … ich sollt’ doch nacht- mahlen geh’n! Irgendwo muss ich doch schließlich hingeh’n … ich könnt’ mich ja in irgendein Beisl setzen, wo mich kein Mensch kennt – schließlich, essen muss der Mensch, auch wenn er sich nachher gleich totschießt … Haha, der Tod ist ja kein Kinderspiel … wer hat das nur neulich gesagt? … Aber das ist ja ganz egal. […] Ich möcht’ wissen, wer sich am meisten kränken möcht’? … Die Mama, oder die Steffi? … Die Steffi … Gott, die Steffi … 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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