Literaturräume, Schulbuch
251 DIe lIteraturübersIcht „kultivierten“ Schichten des wohlhabenden Bürgertums kommen. Aufgrund ihrer finanziellen Basis mussten die Autoren meist auch nicht auf Verkauf und Publikumswirkung ihrer Werke zielen. Die Kultivierung des Ästhe tischen verband sich auch nicht selten mit Naivität gegenüber sozialen und politischen Fragen. Die Demonstration und der Dichter Am 1. Mai 1890 fanden in Wien erstmals Demonstrationen von Arbeitern und Arbeiterinnen statt, die „acht Stunden Arbeit, acht Stunden Erholung, acht Stunden Schlaf“ pro Tag forderten. Über 100.000 versammelten sich am Nachmittag im Prater, der sonst zu dieser Zeit Ort eines adeligen Blumenkorsos war, obwohl ihr Fernbleiben von der Arbeit als „Vertragsbruch“ und Entlassungsgrund galt. Der 16jährige Gymnasiast Hugo von Hof mannsthal kommentierte die Versammlung in einem spontanen Gedicht so: Wien, 1. Mai 1890, Prater, gegen 5 Uhr nachmitt. Tobt der Pöbel in den Gassen, ei, mein Kind, so lass ihn schrei’n. Denn sein Lieben und sein Hassen ist verächtlich und gemein! Während sie uns Zeit noch lassen, wollen wir uns Schönerm weih’n. Will die kalte Angst dich fassen, spül sie fort mit süßem Wein! Lass den Pöbel in den Gassen: Phrasen, Taumel, Lügen, Schein, Sie verschwinden, sie verblassen. Schöne Wahrheit lebt allein! > Beschreiben Sie die seelische Grundstimmung des Autors! > Welche Funktion haben für ihn „Schönheit“ und „schöne Wahrheit“ der Kunst? Welche „Ahnung“ des Autors enthüllt der Versanfang „Während sie uns Zeit noch lassen“ ? > Kommentieren Sie die Bezeichnungen, mit denen der Autor die Arbeiter/Arbeiterinnen und die Versammlung benennt! Der innere Monolog: Sensibilität in einer neuen Form Wie gibt man das „Nervöse“ , das Innenleben am unmittelbarsten wieder? Der „Erfinder“ der neuen Schreibweise, die ins Innerste der Figuren sieht, ist Arthur Schnitzler. Gedanken, Assoziationen, Eindrücke werden in einem inneren Monolog wiedergegeben. Der Bewusstseinsstrom der Figuren wird vom Erzähler weder unterbrochen noch kommentiert. „Paradebeispiel“ für diese Technik ist die Novelle „Leutnant Gustl“ von Arthur Schnitzler (1) . Oft bezieht sich die Darstellung des Innenlebens der Personen auf erotische, sexuelle Motive. Beispiele dafür sind Erzählungen wie „Traumnovelle“ und Dramen wie „Anatol“, „Liebelei“und „Reigen“ (siehe Seite 406 ff., Leseport- folio ). Lyrik als Höhepunkt der Sprachkunst Zum Festhalten von Stimmungen und Andeutungen eignete sich besonders die Lyrik. In Gedichten konnte man auch am leichtesten die erwünschte exklusive Sprache verwenden und die Idee der „reinen“ Dichtung, der „poé sie pure“, realisieren. Unkonventioneller Satzbau, ungewohntes, ausgesuchtes Vokabular kennzeichnen viele Ge dichte. Die angestrebte Exklusivität der Sprache nimmt nicht immer Rücksicht auf Verständlichkeit. Der „Sinn“ der Gedichte bleibt oft dunkel. Der Künstler sieht sich als autonom schaffender Autor, dessen Texte die verschie densten Vorstellungen hervorrufen können. Nach Auffassung der symbolistischen Autoren hat jedes Gedicht die Bedeutung, die ihm der jeweilige Leser gibt. Hervorragende Beispiele für die Lyrik sind die Gedichte von Hugo von Hofmannsthal , wie etwa die „Terzinen über Vergänglichkeit“ (2) , und die Texte Rainer Maria Rilkes . Rilkes „Neue Gedichte“ , so der Titel einer seiner Gedichtsammlungen, zeichnen sich ebenso durch scharfe Beobachtungen aus, die das Wesentliche wiedergeben wollen, wie sein Prosatext „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ (3) . 2 4 6 AUFGABEN Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=