Literaturräume, Schulbuch
244 Der naturalIsmus (1885–1900) Freude am Wechsel des Reizniveaus Die Freude an der Wahrnehmung kommt zustande durch das Anheben und Absenken unseres Reizniveaus. Die Wahrnehmung ernster und trauriger Begebenheiten setzt intensivere Emotionen frei als die Wahrnehmung heiterer. Voraussetzung ist allerdings, dass es sich nicht um reale Ereignisse handelt, sondern solche aus der „Scheinwelt“ der Kunst. Ästhetische Befriedigung erhalten wir nicht nur, wenn Held oder Heldin eines Films oder Dramas haarscharf dem drohenden Untergang entkommen, sondern auch dann, wenn das befürchtete Unheil eintritt. Da wir selbst nicht betroffen sind, können wir die aufgebaute Spannung als Betroffenheit abreagieren. Die Rückkehr aus der manchmal „unerträglichen“ Spannung in die entspannte Alltäglichkeit ist ein Lustgewinn. Und es ist klar, dass die Befürchtung eines tödlichen Ausgangs mehr Spannung aufbaut als die Hoffnung auf ein Happyend. Schadenfreude? Ist es Schadenfreude, wenn wir ästhetische Befriedigung aus dem Unglück anderer gewinnen? Eher nicht: Der Begriff Schadenfreude wäre nur zutreffend, wenn wir den vom Untergang bedrohten Helden/Heldinnen das Unglück gönnen oder geradezu wünschen. Und weshalb so viele tragische Untergänge auch in der modernen Literatur? Ohne Zweifel hat sich im Laufe der Geschichte vieles zum Besseren gewendet. Soziale Not herrscht, zumindest in den Industriestaaten, bei weitem nicht mehr wie zur Zeit des Naturalismus, die Rolle der Frau ist nicht mehr so festgeschrieben wie bei „Effi Briest“ oder „Emilia Galotti“. „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ stünden bessere Möglichkeiten offen, ihre Existenz gemeinsam zu sichern, als damals. Weshalb aber gibt es auch in der modernen Literatur noch das Schwere, Düstere, Ernste in höherem Maß als das Lustige und Amüsante? Auch dafür hat die Literaturwissenschaft eine Antwort gefunden. Dass die heutige Literatur und Kunst die Welt als so wenig heiter zeigen, hat auch den Grund, dass sie mit einer „Unterhaltungsindustrie“ (Fernsehen, Film, Video) in einer „Spaß gesellschaft“ konkurrieren müssen, die alles lustig und witzig findet. Deshalb weichen Kunst und Literatur ins andere „Extrem“ aus. Und wo ist der Unterschied zwischen Kunst und Schmutz und Schund? An Gedrucktem, über Internet Abrufbarem oder an Filmen, die Grausamkeiten, Aggressionen, Gewalt darstellen, fehlt es in unserer Zivilisation nicht. Im Allgemeinen bezeichnet man solche Produkte als „Schmutz und Schund“. Dennoch muss man eingestehen, dass auch Literatur, deren hohen Rang niemand in Frage stellen würde, mit solchen Reizen arbeitet. Der Literaturwissenschafter HansDieter Gelfert verweist in diesem Zusammenhang auf die Dramen Shakespeares, „dessen Stücke kaum weniger sensationelle Effekte enthalten als Bücher und Filme der heutigen Trivialkultur. In ihnen werden Menschen gemordet, es werden Augen ausgestochen, Hände abgehackt und Zungen herausgeschnitten. In den Stücken seiner Zeitgenossen geht es zum Teil noch wüster zu.“ Wo liegt aber nun der grundlegende Unterschied zwischen Literatur vom Rang Shakespeares und Schmutz und Schund? Große Literatur führt dem Menschen seine extremen Möglichkeiten vor – gerade auch an negativen seelischen Ener gien – und warnt davor, diese auszuleben. Shakespeares gewaltbereite Helden zum Beispiel büßen mit ihrem Untergang, Schmutz und Schund hingegen wecken Aggression und stimulieren zur Gewalt, ohne sie zu ver urteilen. AUFGABEN > Sprechen Sie in der Klasse über Filme oder Theaterstücke bzw. Texte, die Sie besonders beeindruckt haben. Handelt es sich dabei um „lustige“ oder „tragische“ Werke? Empfehlen Sie Ihren Mitschülern/ Mitschülerinnen eines dieser Werke und begründen Sie Ihre Empfehlung! > Welche Spielfilme beherrschen den Markt, erreichen international oder österreichweit die höchsten Besucherzahlen? Zu welchen Genres gehören sie, sind es in der Mehrzahl „leichte“, amüsante Filme oder platzieren sich ernste Themen im Vorderfeld? Besuchen Sie für Informationen dazu zum Beispiel die Internetseite http://www.ffa.de/start/content.phtml?page=filmhitlisten oder geben Sie in eine Suchma schine „Filmhitliste“ ein. Welche Filme aus dieser Hitliste haben Sie gesehen, welche bewerten Sie als „gut“, welche als „schlecht“? Vertreten und begründen Sie Ihre Meinung in einer Diskussion! Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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