Literaturräume, Schulbuch
24 DIe lIteratur Des hohen mIttelalters (1170–1250) 2 „Ihr sollt nicht viele Fragen stellen!“ Wolfram von Eschenbach: „Parzival“ (zwischen 1205 und 1210) „Parzival“: die beliebteste Erzählung des deutschen Mittelalters 75 erhaltene mittelalterliche Handschriften und sogar gedruckte Ausgaben aus dem 15. Jahrhundert, der Frühzeit des Buchdrucks, do kumentieren die Beliebtheit des „Parzival“. Die Wissenschaft schätzt, dass im Mittelalter mehr als 1000 ParzivalHandschriften kursierten. Das Werk wird auch heute noch von der Wissenschaft als das „klas sische“ Epos der deutschen Literatur des Mittelalters eingestuft. Die Entstehungszeit des Riesenwerkes – fast 25.000 Verse – lässt sich auf 1205 bis 1210 festsetzen. Ein Autor, der nicht lesen und schreiben kann? „Ine kann decheinen buochstap“ – „Ich kann keinen einzigen Buchsta ben“ –, so beschreibt sich der Autor selbst. Ohne Zweifel ist das eine bewusste Untertreibung. Denn Vorbild für Wolframs „Parzival“ ist Chrétien de Troyes’ unvollendeter Gralsroman „Perceval le Gallois ou Le conte du Graal“. Wolfram hätte ohne Lesekenntnisse Chrétiens Vor lage kaum nützen können. Überdies ist der „Parzival“ mit vielen fran zösischen Phrasen und Vokabeln gespickt. Bedeuten dürfte dieser Satz allerdings, dass Wolfram, im Gegensatz zu den anderen Epikern der höfischen Zeit, keine lateinische Schulbildung hatte. Dokumente über Wolfram fehlen. Seine Lebenszeit ist von 1170 bis 1220 anzusetzen. Die Brennpunkte des „Parzival“ in einer neuhochdeutschen Nachdichtung Eine Mutter will ihr Kind nicht verlieren Ihr Mann ist im ritterlichen Kampf gefallen, kein Wunder, dass Herzeloyde ihrem Sohn Parzival dieses Schicksal ersparen will. In bewusst gewählter Abgeschiedenheit wächst er auf, bei Todesstrafe ist es in seiner Anwesenheit verboten, von Rittern zu sprechen. Doch das Schicksal lässt sich nicht vermeiden. Auf der Jagd begegnen Parzival im Glanz ihrer Rüstung drei schöne Ritter. Parzival hält sie für Gott. Seine Mutter hatte ihm nämlich auf die Fra ge „muoter, waz ist got?“ geantwortet, der sei das Hellste, was man sich vorstellen könne: „er ist noch liehter denne der tac“. Parzival ist nicht mehr zu halten, er zieht aus, um Ritter am Artushof zu werden. Als letzten verzwei felten Schutz zieht ihm seine Mutter ein Narrengewand – „tôren kleider“ – statt einer Rüstung an und setzt ihn auf einen schlechten Gaul. Zum Abschied gibt sie ihm Ratschläge, unter anderem, wie er sich Frauen gegenüber verhalten soll: Mein Sohn, ich geb dir noch den Rat: kannst du bei einer lieben Frau die Neigung und den Ring gewinnen, tu’s! Es macht dir Schweres leicht. Fackel nicht und küsse sie, nimm sie fest in deine Arme – wenn sie keusch, gesittet ist, bringt das Glück und Hochgefühl! Was der Tor Parzival aus den Ratschlägen macht Mit Parzivals Auszug beginnt eine ganze Kette von Unglücksfällen, ohne dass Parzival sich seiner Schuld bewusst wird. Der Abschiedsschmerz tötet seine Mutter. Und gleich am nächsten Tag dringt Parzival in ein Zelt ein. Drin nen schläft eine Frau. Es ist Jeschute, die Gemahlin des Ritters Orilus. Der Rat der Mutter, „Neigung und Ring der Frau zu gewinnen“ , also ihre Liebe zu erringen und sie zur Ehe zu führen, missdeutet Parzival als Aufforderung zur Gewalt. Wolfram von Eschenbach 2 4 6 8 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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