Literaturräume, Schulbuch
226 Der poetIsche realIsmus (1850–1900) Fontanes Eheroman im Trend der Zeit Die Themen „Ehe“ und „Stellung der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft“ sind nicht nur ein zentrales Motiv vieler Romane Fontanes, sondern ein wichtiges Motiv der gesamteuropäischen Literatur der Zeit. Gustave Flau bert behandelt das Motiv des Ehebruchs in seinem Roman „Madame Bovary“ (1857), Lev Nikolajewitsch Tolstoi im Roman „Anna Karenina“ (1877), Henrik Ibsen im Drama „Nora. Ein Puppenheim“ (1879). Ausführlich werden diese Fragen auch in der Philosophie dieser Zeit und von der sich formierenden Frauenbewegung behandelt. Eines der einflussreichsten Bücher wurde 1876 von Hedwig Dohm, einer der radikalsten Kämpferinnen für die Rechte der Frauen, veröffentlicht. Erworbene falsche Vorstellungen, Vorurteile, wenn sie Jahrhunderte oder gar Jahrtausende überdauert haben, versteinern gleichsam und werden dann von den Menschen Gesetzen gleich geachtet, die von Gott selber auf eherne Tafeln geschrieben [...]. Die Reflexion, der Verstand, oder sagen wir einfacher und richtiger, der Egoismus spricht zu dem Manne: Die Frau, die an deinem Herde lebt, darf nicht allzu klug sein, der Verstand muss bei ihr unter der Herrschaft des Gefühls stehen, sie muss sein: passiv, rezeptiv 1 , naiv. In keinem Fall darf sie klüger sein als du. [...] Ist er, der Gatte, auch als Mann etwas dümmlich, er tröstet sich damit, dass er wenigstens ein Mann ist, und als solcher ein Riese an Intelligenz den Frauen gegenüber [...]. Welche Eigenschaften erzeugen in der Regel absolute Abhängigkeit? Heuchelei, List, Verstellung, Lüge, Intrige, Mangel an Tatkraft [...]. Eine Frau, die nicht zu heucheln gelernt hat und die das Geschick nicht in eine Umgebung ungewöhnlich edler Menschen versetzt hat, wird fast immer in ihrem Leben kläglich scheitern, [...] sie lügt bloß und heuchelt, und sie lügt, weil sie lügen muss. Man könnte es auch höflicher ausdrücken und sagen: Sie [...] arrangiert sich. Es arrangiert sich aber niemand, es sei denn auf Kosten der Wahrheit und Menschenwürde. Schopenhauers Frauenfeindlichkeit Eine besonders vorurteilsvolle Sicht auf die Frau hat Arthur Schopenhauer, speziell in seiner Schrift „Über die Weiber“ (1851). Fontane, der Schopenhauer sonst schätzte, qualifizierte diese Schrift so: „Das ganze Kapitel ‚Über die Weiber‘ zählt zu dem Schwächsten, was man sich denken kann; es ist das Gequackel eines eigensinnigen, vorur- teilsvollen, persönlich vergrätzten alten Herrn.“ Hier ein Abschnitt aus Schopenhauers Schrift: Mit den Mädchen hat es die Natur auf das, was man im dramaturgischen Sinne einen Knalleffekt nennt, abgesehen, indem sie dieselben, auf wenige Jahre, mit überreichlicher Schönheit, Reiz und Fülle ausstattet, auf Kosten ihrer ganzen übrigen Lebens- zeit, damit sie nämlich, während jener Jahre, der Phantasie eines Mannes sich in dem Maße bemäch- tigen könnten, dass er hingerissen wird, die Sorge für sie auf Zeit Lebens, […] ehrlich zu übernehmen; zu welchem Schritte ihn zu vermögen, die bloße vernünftige Überlegung keine hinlänglich sichere Bürgschaft zu geben schien. Sonach hat die Natur das Weib, eben wie jedes andere ihrer Geschöpfe, mit den Waffen und Werkzeugen ausgerüstet, deren es zur Sicherung seines Daseins bedarf, und auf die Zeit, da es ihrer bedarf; wobei sie denn auch mit ihrer gewöhnlichen Sparsamkeit verfahren ist. Wie nämlich die weibliche Ameise, nach der Begattung, die fortan überflüssigen, ja, für das Brutverhältnis gefährlichen Flügel verliert; so meistens nach einem oder zwei Kindbetten, das Weib seine Schönheit; wahrscheinlich sogar aus dem selben Grunde […]. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 1 empfänglich AUFGABEN > Fassen Sie die Vorwürfe zusammen, welche die Autorin an die Männer richtet! > Welche Konsequenzen resultieren laut Dohm aus der Abhängigkeit der Frauen? AUFGABE > Worauf reduziert Schopenhauer das Wesen der Frau? Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des V rlags öbv
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