Literaturräume, Schulbuch

gepasstheit an die Welt der Industrialisierung, „Vermassung“ und Geldherrschaft ohne Einfluss bleiben („Der Hungerpastor“, „Stopfkuchen“). Theodor Fontane (1819–98) hatte zunächst als Balladendichter („Die Brü­ cke am Tay“) und mit Reiseschilderungen begonnen. Seinen ersten Roman veröffentlichte er erst mit dem 60. Lebensjahr. Hohle Ehrbegriffe, Kritik an Hof, Militär und die gesellschaftliche Problematik der Frau sind seine Themen. Sie bestimmen auch Fontanes berühmtesten Roman, „Effi Briest“ (5) . Realistischer Humor und realistisches Drama in Norddeutschland: Wilhelm Busch, Friedrich Hebbel Der große Humorist, der als Waffe gegen die Widersprüche des Lebens Witz und Satire einsetzt, ist Wilhelm Busch (1832–1908). Mit seinen Bildergeschichten wird er gleichzeitig zu einem der Bahnbrecher für die Comics (siehe Fokus) . Friedrich Hebbel (1813–63) ist der wichtigste Dramatiker dieser Gruppe. Sein Drama „Maria Mag­ dalene“ gilt als das letzte bürgerliche Trauerspiel. Nicht mehr die Auseinandersetzung zwischen Adel und Bürger­ tum so wie im „klassischen“ bürgerlichen Trauerspiel bestimmt jedoch den Konflikt. Der „Kampf der Geschlech­ ter“, das Missverstehen zwischen Mann und Frau, die Angst vor der „Schande“ und ein leerer Begriff von „Eltern­ ehre“ treiben eine junge Frau in den Tod. Der leseraum 1 „Tausende von Menschen, die Felsen gesprengt, Steinblöcke gewälzt, Abgründe überbrückt haben“ Ferdinand von Saar: „Die Steinklopfer“ (1874) Gibt es einen typisch österreichischen Realismus? Dass sich die Realisten prägnant in landschaftliche Gruppierungen gliedern lassen und sich auch eine österrei­ chische Gruppe bestimmen lässt, wissen Sie. Aber gibt es über das Geographische hinaus Merkmale, die speziell die Literatur dieser österreichischen Autoren und Autorinnen charakterisieren? Die Antwort der Literaturwis­ senschaft: Es gibt tatsächlich eine spezifisch österreichische Art des Realismus. Zusammenfassen lässt sich dieses Eigentümliche des österreichischen Realismus in folgenden Stichwörtern: Ahnung vom Zerfall der alten Ord­ nungen und vom Ende der Monarchie, großes soziales Empfinden, Sympathie für die vom Leben geprügelten Menschen, Polemik gegen den moralisch nicht immer edlen Adel, Suche nach Ausgleich, Skepsis gegenüber einer grundlegenden Möglichkeit der Änderung ungerechter Verhältnisse. Eine Zugsfahrt über den Semmering: ein Erlebnis Eine Zugsfahrt über den Semmering ist auch heute noch mit dem Wechsel von Tunnels, Viadukten, Schluchten ein Landschaftserlebnis. Aufgrund ihres Wertes als Zeugnis einer technischen Meisterleistung des 19. Jahrhun­ derts wurde das Bauwerk auch 1998 von der UNESCO zum Weltkulturerbe der Menschheit erklärt. An eines wird man aber heute möglicherweise genauso wenig denken, wie es Ferdinand von Saar für seine Zeit annimmt: an die „Tausenden und Abertausenden von Menschen, welche im Schweiße ihres Angesichts, allen Fährlichkeiten preisgegeben, Felsen gesprengt, Steinblöcke gewälzt, Abgründe überbrückt und so […] jene Verkehrsstraße geschaf- fen“ haben. Von „zweien solcher armen Menschen“ berichtet Saar. Die große Welttragödie im Kleinen Die Darstellung der Welt der Proletarier ist im Realismus selten. Insofern ist Saars Novelle eine wichtige Aus­ nahme. Aber auch Saar ist, so wie alle Realisten, kein Revolutionär, kein Autor, der Aufruhr anzetteln will gegen ein System, das die einen zu Arbeitssklaven degradiert und andere durch deren Arbeit reich werden lässt. Für Saar ist dieser Gegensatz nicht etwas gesellschaftlich Änderbares, sondern Beispiel für ein unabwendbares Schicksal. Saar geht es nicht darum, das „harte Los dieser Parias 1 der Gesellschaft, die unsere Dome und Paläste, unsere Unterrichtsanstalten und Kunstinstitute bauen, in grellen Farben zu schildern“ . Er will „zeigen, wie Leid und Lust jedes Menschenherz bewegen und dass sich überall im Kleinen abspielt die große Tragödie der Welt“. 215 DIe lIteraturübersIcht | Der leseraum 1 Ausgestoßenen Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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