Literaturräume, Schulbuch

214 Der poetIsche realIsmus (1850–1900) Drei Zentren des poetischen Realismus: Österreich, Schweiz, Norddeutschland Der österreichische Realismus: Saar, Ebner-Eschenbach, Rosegger, Anzengruber Die bedeutendsten Werke des österreichischen Realismus gehören zur Erzählprosa. Hauptmotiv sind die Konflikte zwischen der Gesellschaft und den einzelnen Menschen. Wenn Personen der Weg in ein geglücktes Leben gelingt, dann unter vielen Opfern. Doch meist bestimmen andere über Hoffnungen, Wünsche und Lebensplanung. Desillusionierung, Flucht vor der Welt, Scheitern charakterisieren viele Figuren. Die Resigna­ tion prägt auch jene Texte, die sich direkt, meist in Form von Aufsätzen, mit den gesellschaftlichen Veränderungen befassen. Die kurze Form von Novelle, Erzählung und Aufsatz wird auch begünstigt durch die starke Erweiterung des Zeitungen und Zeitschriftenmarktes. Mit Hilfe dieses Marktes können erstmals in größerer Zahl „freie Schriftsteller“ arbeiten, die nicht mehr von Mäzenen abhängig sind, sondern von vertraglich fest­ gelegten Honoraren leben. Die Zeitschriften ihrerseits werben mit den Erstund Vorabdrucken um Abonnenten. In diesem Zusammenhang wird erstmals der auch heute noch beliebte Fortsetzungsroman ein fester Zeitungsbestandteil. Als Beispiele für den österreichischen Realismus finden Sie „Die Steinklopfer“ aus den „Novellen aus Österreich“ von Ferdinand von Saar (1833–1906) (1) , „Krambambuli“ aus den „Dorf und Schlossgeschichten“ von Marie von Ebner-Eschenbach (1830–1916) (2) und die Aufsätze „Die Entseelung des Arbeiters“ und „Volkswohlstand“ von Peter Rosegger (1843–1918) aus seiner Monatszeit­ schrift „Heimgarten“ (3) . Der wichtigste realistische Dramatiker Österreichs ist der lange wenig geschätzte Lud­ wig Anzengruber (1839–89), dessen Dramen neuerdings wegen ihrer Thematik und psychologischen Analyse zunehmend Interesse finden. Anzengrubers Stücke bringen die dramatischen Veränderungen im Bauernstand ebenso zur Sprache wie Kritik an heuchlerischer Scheinreligiosität und der unbedingten Gültigkeit des Gebots der Liebe der Kinder zu ihren Eltern („Das vierte Gebot“). Die Schweizer Realisten: Keller und C. F. Meyer Einen Gipfel erreichen realistische Erzählung und Novelle mit den „Züricher Novellen“ und der Sammlung „Die Leute von Seldwyla“ (4) von Gottfried Keller (1819–90). Auch der bedeutendste Bildungsroman der Epoche, „Der grüne Heinrich“ (1854/55), stammt von Keller. Er stellt einen jungen Mann vor, der in die Stadt zieht, um Maler zu werden, dort völlig haltlos wird, wieder heimkehrt, aber zu spät kommt, um seine Mutter noch lebend anzutreffen. Aus Schuldgefühl und Erschütterung stirbt er kurz darauf. In einer zweiten Fassung des Romans al­ lerdings lässt Keller den Sohn noch rechtzeitig zurückkommen, eine treue Frau finden und selbst für die Gemein­ schaft tätig werden. Der zweite bedeutende Novellist des Schweizer Realismus, Conrad Ferdinand Meyer (1825– 98), gilt auch als „typischer“ Lyriker der Epoche. Die realistische Lyrik hält nichts von politisch engagierten Ge­ dichten. Das charakteristisch Neue dieser Lyrik sind die ersten „Dinggedichte“ der Literatur. Sie stellen Objekte und Gegenstände dar, die genau beobachtet und dann als Symbol für Grundtatsachen des Lebens, wie Vergäng­ lichkeit, Glück, Ruhe, Gelassenheit interpretiert werden (siehe Grenzenlos) . Realistische Epik und Lyrik in Norddeutschland: Raabe, Fontane, Storm Auch im Norden Deutschlands arbeitet eine Gruppe von Realisten. Theodor Storm (1817–88) ist Novellist und Lyriker. Zahlreiche Novellen Storms sind „Erinnerungs“ oder „Chroniknovellen“. Dies erlaubt dem Autor eine zeitliche Distanzierung und mildert die Kritik. Alkoholismus, Spekulantentum, Überheblichkeit des Adels richten die Menschen zugrunde. An irrationalen Vorurteilen und an seinem eigenen Hochmut scheitert Hauke Haien, die Hauptfigur von Storms bekanntester Novelle „Der Schimmelreiter“. Er will mit neuen Deichen das Land ge­ gen die Sturmfluten der Nordsee schützen. Doch Fortschrittsfeindlichkeit und Aberglauben sind stärker. Das Meer verschlingt Haukes Frau und Kind, Hauke stürzt sich mit seinem Schimmel ins Meer. Droht eine Sturmflut, so erscheint seither jedes Mal der gespenstische „Schimmelreiter“ zur Warnung. Wilhelm Raabe (1831–1910) ist Romancier. Seine Figuren sind Sonderlinge und Außenseiter, die humane Werte verkörpern, aber in ihrer Unan­ INFO Novelle Prosaoder (selten) Verserzählung von mittlerem Umfang, die sich durch straffe, schnelle Handlungs­ führung auszeichnet. Gegenstand des Erzählens ist nach der Definition Goethes „eine sich ereignete unerhörte Begebenheit“ . Die Novelle erhebt also einen gewissen Anspruch auf Wahrheit und erzählt von etwas Außerge­ wöhnlichem. Durch den knappen Umfang kann sich die Novelle intensiver als der Roman auf ein Thema konzentrieren. Nur zu Prüfzweck n – Eigentum des Verlags öbv

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