Literaturräume, Schulbuch
208 Das bIeDermeIer unD DIe lIteratur Des vormärz (1820–1848) Jelinek kontra, Handke pro Stifter Natürlich sind, entgegen Bernhards Behauptung, nicht alle österreichischen Autorinnen und Autoren „immer nur begeistert von Stifter“ . Sehr kritisch ist Elfriede Jelinek. In „Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr“ heißt es in direkter Gegenposition zu Stifter: „Alles ist Laune an der Natur. Nichts Gesetz und schon gar nichts sanft.“ Unter den von Stifter „begeisterten Schriftstellern“ ist Peter Handke zu nennen. Viele seiner Werke bringen Landschaftsschilde rungen, welche die Anregung Stifters zeigen. In einer Studie befasst sich Handke mit dem Biedermeier. Grillpar zer sei „absolut verkannt worden. Er war zu tiefgründig, zu scharfsinnig, zu schonungslos. Er war nicht nett, […] er war nicht unterwürfig […].“ Stifter ist für Handke der „meiner Meinung nach bedeutendste österreichische Schrift- steller“. grenzenlos Stifter ist aktuell Stifter reizt (an) Die Bewertung Stifters durch die zeitgenössischen österreichischen Autorinnen und Autoren fällt sehr gegen sätzlich aus, wie die folgenden Beispiele zeigen. Eine Stifterschmähung? – Thomas Bernhard: „Alte Meister“ In diesem Roman Bernhards (1985) treffen einander der Gelehrte Atzbacher und der Musikwissenschafter Reger imWiener Kunsthistorischen Museum. Gesprächsthema: Regers Ansicht, es gäbe kein vollkommenes Kunstwerk. Alle „Alten Meister“ aus Malerei, Musik, Dichtung sind unvollkommen. Reger urteilt auch über Stifter: Als ich mich vor einem Jahr präzise und radikal mit Stifter beschäftigte, traute ich meinen Augen und Ohren nicht. Ein so fehlerhaftes und stümperhaftes Deutsch oder Österreichisch, wie Sie wollen, habe ich vorher in meinem ganzen Geistesleben nicht gelesen bei einem solchen ja heute tatsächlich gerade wegen seiner gestochenen und klaren Prosa berühmten Autor. […] Wenn wir Stifter mit dem Rotstift zu lesen anfangen, kommen wir aus dem Korrigieren nicht heraus, sagte Reger. Hier hat kein Genie zur Feder gegriffen, sagte er, sondern ein übler Stümper. […] Alle unsere Schriftsteller, ohne Ausnahme, reden und schreiben heute immer nur begeistert von Stifter und hängen ihm an, als wäre er der Schriftstellergott der Jetztzeit. Entweder diese Leute sind dumm und haben keinerlei Kunstgeschmack und verstehen von Literatur nicht das Geringste, oder sie haben eben, was ich leider zuerst glauben muss, Stifter nicht gelesen, sagte er […]. INFO Der Ironiker Bernhard Ob allerdings die in „Alte Meister“ geäußerte Kritik an Stifter wirklich „eins zu eins“ die Meinung Bernhards spiegelt, bleibt offen. Bernhard nennt den Roman eine „Komödie“. In einer Komödie sind auch Witze erlaubt. Überdies legt der Autor die Sätze einer seiner Figuren in den Mund. Autor und Figur müssen aber nicht identisch sein. Drittens finden sich in Bernhards frühen Werken, wie „Frost“ und „Das Kalkwerk“, stilistische Spuren Stifters. So hält auch der österreichische Autor und StifterVerehrer Julian Schutting Bernhard für einen StifterBewunderer, „auch wenn er sich in seiner Doppelbödigkeit über ihn lustig macht“ . 2 4 6 8 10 12 14 16 AUFGABEN > Nehmen Sie (wieder einmal?) den „Struwwelpeter“ zur Hand. Welche Verhaltensregeln werden dort formuliert? Welche würden Sie auch heute noch für akzeptabel halten? > Welche Lieblingstexte hatten Sie in den verschiedenen Altersstufen? Was halten Sie heute für den damals entscheidenden „Auswahlgrund“? Würden Sie heute einen der damaligen Lieblingstexte ablehnen? Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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