Literaturräume, Schulbuch
Der fokus Und was lesen die Kinder? Die erste große Welle der Kinder- und Jugendliteratur Die Idee, Kinder durch eine eigens für sie geschriebene Literatur zu prägen, entwickelt sich erstmals in der Auf klärung. Als in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein wohlhabendes Bürgertum entsteht, bildet sich auch ein neuer, florierender Markt für Kinderund Jugendbücher. Die Bücher sollen die Kinder mit Weltanschauung und Lebensregeln der Eltern vertraut machen und gesellschaftlich erwünschtes Denken und Handeln formen. Moralische Literatur Die Kinder des Biedermeier lesen, so wie Kinder und Jugendliche heute, Reiseund Abenteuererzählungen, Tier geschichten, Sachbücher. Dominierend sind allerdings die moralischen Geschichten. Erwünschtes Verhalten wird belohnt, unerwünschtes bestraft. Dies sollte mit typischen, lehrhaften Situationen in anschaulichen Geschichten „bewiesen“ werden, die zum Vorlesen gedacht waren. Das SelberLesen wurde weniger gern gesehen, Warnungen vor den schlimmen Folgen von „Lesewut“ – Abmagerung, Siechtum, Verblödung – waren häufig. Besonders erfolgreich war der Band „Hundertfünfzig moralische Geschichten für kleine Kinder“ von Franz Hoffmann (1814–82). Der folgende Ausschnitt stammt aus diesem 1842 erstmals gedruckten Buch. 207 Der fokus Der Strickstrumpf Die kleine Hermine lief den ganzen Tag auf der Straße umher und hatte nie Lust, etwas zu lernen. Sie war schon fünf Jahre alt und konnte noch nicht einmal stricken […]. Hundertmal des Tages befahl ihr die Mutter, sich ruhig hinzusetzen und ein wenig zu lernen, aber Hermine wollte nicht darauf hören. […] Das machte der Mutter viel Sorge. Eines Tages ging Hermine zu ihrer Gespielin Ida. Sie fand dort noch mehr Kinder. Alle saßen um einen kleinen Tisch herum, waren fleißig, strickten Strümpfchen und plauderten dabei. Hermine setzte sich zu ihnen und wollte mit ihnen vergnügt sein. – Ei, sagte Ida, wo hast du denn dein Strickzeug, Hermine? – Ich habe keins, erwiderte sie, denn ich kann noch nicht stricken und will‘s auch nicht lernen. Als die andern kleinen Mädchen das hörten, rückten sie ihre Stühle weit von Hermine weg, und Ida sagte: Höre, Herminchen, wenn du so faul bist und nichts lernen willst, dann sprechen wir nicht mehr und du kannst allein bleiben. Hermine blieb ruhig sitzen und lachte. Bald darauf trat aber Idas Mutter in die Stube und brachte einen Teller schöner großer Äpfel herein. […] Jedes fleißige Kind bekommt einen, sagte die Mutter, wer aber faul gewesen ist, erhält nichts. Da gab sie jedem Kinde einen Apfel, und Herminen keinen. Diese musste zusehen, wie es sich die andern so wohl schmecken ließen. Da schämte sie sich, und als niemand sich kümmerte, ging sie nach Hause und bat ihre Mutter mit Tränen, ihr doch einen Strickstrumpf zu geben, sie wolle von jetzt an fleißig sein. Bald hatte sie das Stricken gelernt, denn sie gab sich recht viele Mühe, und als sie ein paar Tage darauf wieder zu Ida ging, nahm sie das Strickzeug mit, und erhielt ihren Apfel so gut wie die andern kleinen Mädchen. Da war sie glücklich und freute sich über ihren Fleiß. Grausame Kinder- und Jugendgeschichten Der oben präsentierte Text stellt die Realität idyllisch dar und betont den Erfolg eines gehorsamen Lebens. Eine andere Art moralischer Literatur zielt auf drastische, bis zur Grausamkeit gehende Abschreckung. Prototyp die ser Art von Geschichten ist der bereits kurz nach seinem Erscheinen 1847 in viele Sprachen übersetzte „Struwwel peter“ von Heinrich Hoffmann (1809–94). 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 AUFGABEN > Welche Frauenrolle propagiert der Text? > Bewerten Sie das Verhalten der anderen Kinder im „Strickstrumpf“! > Schreiben Sie zum „Strickstrumpf“ ab Zeile (22) einen anderen Schluss! Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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