Literaturräume, Schulbuch
Heines Loreley-Gedicht Ich weiß nicht was soll es bedeuten Dass ich so traurig bin; Ein Märchen aus alten Zeiten, Das kommt mir nicht aus dem Sinn. Die Luft ist kühl und es dunkelt, Und ruhig fließt der Rhein; Der Gipfel des Berges funkelt Im Abendsonnenschein. Die schönste Jungfrau sitzet Dort oben wunderbar; Ihr goldnes Geschmeide blitzet, Sie kämmt ihr goldenes Haar. Sie kämmt es mit goldenem Kamme Und singt ein Lied dabei; Das hat eine wundersame, Gewaltige Melodei. Den Schiffer im kleinen Schiffe Ergreift es mit wildem Weh; Er schaut nicht die Felsenriffe, Er schaut nur hinauf in die Höh’. Ich glaube, die Wellen verschlingen Am Ende Schiffer und Kahn; Und das hat mit ihrem Singen Die Loreley getan. 203 Der leseraum 2 Gegen die „Holzpuppen“ auf der Bühne Georg Büchner: „Woyzeck“ (1836) Menschen von Fleisch und Blut, keine Marionetten 1835 muss der von der Polizei wegen Veröffentlichung der kritischen Schrift „Der Hessische Landbote“ steckbrieflich gesuchte Georg Büchner ins Exil. Dort, in Straßburg, schreibt er die Erzählung „Lenz“. Sie behan delt das Schicksal des SturmundDrangDichters Jakob Michael Reinhold Lenz, Freund Goethes in Straßburg. Lenz hatte nach Goethes Abschied von Friederike Brion versucht, dessen Stelle einzunehmen, war jedoch damit ebenso gescheitert wie mit dem Versuch, sich in Weimar Goethes Schwester zu nähern. Goethe brach den Kontakt zu Lenz ab, Lenz wurde aus Weimar ausgewiesen. Bald zeigten sich bei Lenz Anzei chen der Schizophrenie, der Dichter fand vorübergehend Aufenthalt bei einem Pfarrer in der Nähe von Straßburg. Der musste ihn aufgrund von Selbstmordversuchen jedoch wieder fortschicken. Dieser Aufenthalt von Lenz ist auch das Thema von Büchners Erzählung. Zwischen Lenz und einem ebenfalls im Pfarrhaus anwesenden Schriftsteller erfindet Büchner ein Gespräch über die Literatur. Lenz ist Büch ners Sprachrohr, er kritisiert die Dichtung, die idealistische Menschen darstellen will, aber nur „Holzpuppen“ fa briziert. Der Literatur dürfe „keiner zu gering, keiner zu hässlich sein“, um dargestellt zu werden. Nicht „Marionet- ten mit himmelblauen Nasen und affektiertem Pathos, aber […] Menschen von Fleisch und Blut, deren Leiden und Freude mich mitempfinden macht“ , will Büchner auf die Bühne bringen. Eine idealistische Literatur missbrauche die Menschen zu dichterischen Zwecken und sei es nur, indem sie in Versen reden müssen, anstatt die Gewalt darzustellen, die ihnen in der Realität angetan wird. Woyzeck: ein Mensch aus Fleisch und Blut „Am 21. Juni des Jahres 1821, abends um halb zehn Uhr, brachte der Friseur Johann Christian Woyzeck, einundvier- zig Jahre alt, der sechsundvierzigjährigen Witwe des verstorbenen Chirurgus Woost, Johannen Christianen […] in dem Hausgange ihrer Wohnung auf der Sandgasse mit einer abgebrochenen Degenklinge, an welche er desselben Nachmittags einen Griff hatte befestigen lassen, sieben Wunden bei, an denen sie nach wenigen Minuten ihren Geist aufgab.“ Mit diesen Worten beginnt das Gerichtsgutachten, das klären sollte, ob der früh elternlose, auf Wander schaft als Perückenmacher herumgestoßene, arbeitlose Woyzeck zum Zeitpunkt des Mordes zurechnungsfähig war. Nach drei Jahren des Hin und Her erkannte das Gericht schließlich auf Zurechnungsfähigkeit. Woyzeck wurde mit dem Schwert öffentlich hingerichtet. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 Georg Büchner Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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