Literaturräume, Schulbuch
5 „Ein so genannter ordentlicher Säufer“ Annette von Droste-Hülshoff: „Die Judenbuche“ (1842) Niemand entkommt „Die Judenbuche“ ist eine auf einer wahren Begebenheit beruhende Erzählung, in der nicht nur der Täter Fried rich Mergel, Mörder an einem Juden, Schuld auf sich lädt, sondern die gesamte Gesellschaft des Dorfes B. Die Dorfgesellschaft lässt niemanden aus der brutalen sozialen Ordnung ausbrechen. Wer nicht konform ist, endet gewaltsam. Die Autorin schildert, wie Milieu und Vererbung den Menschen prägen. Trotzdem hätte er die Frei heit, sich nicht für das Böse zu entscheiden. Sie finden hier die Anfänge der Erzählung – die Herkunft Friedrich Mergels – und Ideen für eine Analyse des Ganztextes. 199 Der leseraum […] Friedrichs Vater, der alte Hermann Mergel, war in seinem Junggesellenstande ein so genannter ordentlicher Säufer, d. h. einer, der nur an Sonn- und Festtagen in der Rinne lag und die Woche hindurch so manierlich war wie ein anderer. So war denn auch seine Bewerbung um ein recht hübsches und wohlhabendes Mädchen ihm nicht erschwert. Auf der Hochzeit ging’s lustig zu. […] aber am nächsten Sonntage sah man die junge Frau schreiend und blutrünstig durchs Dorf zu den Ihrigen rennen, alle ihre guten Kleider und neues Hausgerät im Stich lassend. Das war freilich ein großer Skandal und Ärger für Mergel, der allerdings Trostes bedurfte. So war denn auch am Nachmittage keine Scheibe an seinem Hause mehr ganz, und man sah ihn noch bis spät in die Nacht vor der Türschwelle liegen, einen abgebrochenen Flaschenhals von Zeit zu Zeit zum Munde führend und sich Gesicht und Hände jämmerlich zerschneidend. Die junge Frau blieb bei ihren Eltern, wo sie bald verkümmerte und starb. […] Mergel war und blieb ein verlegener und zuletzt ziemlich armseliger Witwer, bis er mit einem Male wieder als Bräutigam auftrat. […] Margret Semmler war eine brave, anständige Person, so in den Vierzigern, in ihrer Jugend eine Dorfschönheit und noch jetzt als sehr klug und wirtlich geachtet, dabei nicht unvermögend; und so musste es jedem unbegreiflich sein, was sie zu diesem Schritte getrieben. […] Am Abend vor der Hochzeit soll sie gesagt haben: „Eine Frau, die von ihrem Manne übel behandelt wird, ist dumm oder taugt nicht: wenn’s mir schlecht geht, so sagt, es liege an mir.“ Der Erfolg zeigte leider, dass sie ihre Kräfte überschätzt hatte. Anfangs imponierte sie ihrem Manne; er kam nicht nach Haus oder kroch in die Scheune, wenn er sich übernommen hatte; aber das Joch war zu drückend, um lange getragen zu werden, und bald sah man ihn oft genug quer über die Gasse ins Haus taumeln, hörte drinnen sein wüstes Lärmen und sah Margret eilends Tür und Fenster schließen. An einem solchen Tage – keinem Sonntage mehr – sah man sie abends aus dem Hause stürzen, ohne Haube und Halstuch, das Haar wild um den Kopf hängend, sich im Garten neben ein Krautbeet niederwerfen und die Erde mit den Händen aufwühlen, dann ängstlich um sich schauen, rasch ein Bündel Kräuter brechen und damit langsam wieder dem Hause zugehen, aber nicht hinein, sondern in die Scheune. Es hieß, an diesem Tage habe Mergel zuerst Hand an sie gelegt, obwohl das Bekenntnis nie über ihre Lippen kam. Das zweite Jahr dieser unglücklichen Ehe ward mit einem Sohne, man kann nicht sagen erfreut, denn Margret soll sehr geweint haben, als man ihr das Kind reichte. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 AUFGABEN > Zur Analyse des Textausschnitts: Beschreiben Sie die dargestellten Charakterzüge des Vaters von Friedrich! > Ideen zur Analyse des ganzen Textes: – Kennzeichen des Dorfes B. und seiner Bewohner, ihre Anschauungen von Recht und Gesetz, die Rolle der Vorurteile in der Gemeinschaft; – das Milieu, in dem der „Held“ Friedrich Mergel aufwächst, die Bedeutung des Milieus für seine Entwick lung, die Versuche Mergels, seinem Milieu zu entkommen; – die Rolle von Simon Semmler, Johannes Niemand, Wilm Hülsmeyer und ihre Bedeutung für Mergel; – die Stellung des Försters Brandes im Dorf und die Verstrickung Mergels in den Mord an ihm; – das auslösende Moment für die Ermordung des Juden Aaron; – die Rolle des Gutsherrn; die Funktion des Brederwaldes und der Judenbuche. Nur zu Prüfzweck n – Eigentum des Verlags öbv
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