Literaturräume, Schulbuch
Es ist einmal gegen mich bemerkt worden, dass ich nur das Kleine bilde, und dass meine Menschen stets gewöhnliche Menschen seien. […] Großes oder Kleines zu bilden, hatte ich bei meinen Schriften überhaupt nie im Sinne, ich wurde von ganz anderen Gesetzen geleitet. […] Weil wir aber schon einmal von dem Großen und Kleinen reden, so will ich meine Ansichten darlegen, die wahrscheinlich von denen vieler anderer Menschen abweichen. Das Wehen der Luft, das Rieseln des Wassers, das Wachsen der Getreide, das Wogen des Meeres, das Grünen der Erde, das Glänzen des Himmels, das Schimmern der Gestirne halte ich für groß: das prächtig einherziehende Gewitter, den Blitz, welcher Häuser spaltet, den Sturm, der die Brandung treibt, den feuerspeienden Berg, das Erdbeben, welches Länder verschüttet, halte ich nicht für größer als obige Erscheinungen […]. So wie es in der äußeren Natur ist, so ist es auch in der inneren, in der des menschlichen Geschlechtes. Ein ganzes Leben voll Gerechtigkeit, Einfachheit, Bezwingung seiner selbst, Verstandesgemäßheit, Wirksamkeit in seinem Kreise, Bewunderung des Schönen, verbunden mit einem heiteren, gelassenen Sterben, halte ich für groß: mächtige Bewegungen des Gemütes, furchtbar einherrollenden Zorn, die Begier nach Rache, den entzündeten Geist, der nach Tätigkeit strebt, umreißt, ändert, zerstört, und in der Erregung das eigene Leben hinwirft, halte ich nicht für größer, sondern für kleiner […]. Wir wollen das sanfte Gesetz zu erblicken suchen, wodurch das mensch- liche Geschlecht geleitet wird. […] Es ist das Gesetz dieser Kräfte, das Gesetz der Gerechtigkeit, das Gesetz der Sitte, das Gesetz, das will, dass jeder geachtet, geehrt, ungefährdet neben dem anderen bestehe, dass er seine höhere menschliche Laufbahn gehen könne, sich Liebe und Bewunderung seiner Mitmenschen erwerbe, dass er als Kleinod gehütet werde, wie jeder Mensch ein Kleinod für alle andern ist. 197 Der leseraum Das beschädigte Leben Die idealistischen Forderungen aus der Vorrede zu den „Bunten Steinen“ kann Stifter selbst nicht realisieren. Als er zwölf Jahre alt ist, stirbt sein Vater, ein Leinwandhändler, erschlagen von seinem Fuhrwerk. Stifter maturiert zwar im Stiftsgymnasium Kremsmünster mit Auszeichnung, schließt jedoch sein Studium nicht ab. Versuche, sich in der „besseren“ Gesellschaft zu behaupten, scheitern. Bis in sein fünfundvierzigstes Lebensjahr, in dem er zum Schulrat für Oberösterreich ernannt wird, bleibt seine wirtschaftliche Situation prekär. Fortwährend wird er von Gläubigern bedrängt und mehrmals gepfändet. Der Dienst als Hauslehrer während der Studienjahre in Wien beeinträchtigt sein Selbstwertgefühl. Die Revolution verursacht ihm Unbehagen und Furcht. Er spielt ohne Glück in der Lotterie, spekuliert verlustreich in Aktien. Dazu häuft sich persönliches Unglück an: eine von ihm ungeschickt angegangene Jugendliebe, die er sein Leben lang nicht vergisst, eine langjährige, eher quälende Ehe mit einer fast analphabetischen Frau, unerfüllter Kinderwunsch, früher Tod der ersten Ziehtochter und Selbst mord der zweiten mit achtzehn Jahren. Stifters Leben endet 1868 im Selbstmord. Versuche, das Leben zu bewältigen Als Stifter die Nachricht vom Tode des Vaters bekommt, verweigert er beharrlich die Nahrungsaufnahme. Der spätere Stifter leidet unter unüberwindlichem Esszwang, seine Mahlzeiten sind von unglaublicher Reichhaltig keit. Der Wissenschafter W. G. Sebald gibt einen Einblick: Aus seiner Korrespondenz lässt sich entnehmen, dass er zur Vorspeise allein häufig dutzendweise Krebse oder sechs und mehr Forellen zu sich nahm. Und das Register dessen, was er sich noch in einer Zeit, in der er sich häufig schon am Rand des Grabes wähnt, systematisch einverleibt, ist tatsächlich schauerlich: „Rindfleisch, geback. Kitzl, gebrat. Huhn, Hasel- huhn, Taube, Kalbsbraten, Schinken, saure Leber, 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 2 4 6 8 AUFGABEN > Welcher Satz nimmt direkt auf Hebbels Angriff Bezug? Welche Gründe könnte es geben, dass Stifter seinen Kontrahenten nicht beim Namen nennt? > An welcher Stelle schlägt der Autor die Brücke von der Natur zum menschlichen Verhalten? Welches Verhalten entspricht dem „feuerspeienden Berg“ und Erdbeben, welches Verhalten dem „Wehen der Luft“ und dem „Rieseln des Wassers“ ? > Definieren Sie in eigenen Worten das „sanfte Gesetz“ , das die Menschen leiten soll! Nur zu Prüfzwecken – Eig ntum des Verlags öbv
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