Literaturräume, Schulbuch
196 Das bIeDermeIer unD DIe lIteratur Des vormärz (1820–1848) 4 „Dass jeder geachtet, geehrt neben dem anderen bestehe …“ Adalbert Stifter: „Bunte Steine“ (1853) Gegen einen alten Irrtum: Stifter ist kein Idylliker Über Generationen hinweg wurde Stifter zum Dichter des Idyllischen ab gestempelt. Erst im 20. Jahrhundert sahen einige wenige den Autor und sein Werk anders. Franz Kafka nannte Stifter seinen „dicken Bruder“ . Thomas Mann bezeichnete ihn als einen der „hintergründigsten, heimlich kühnsten und unheimlich packendsten Erzähler der Weltliteratur, kritisch viel zu wenig ergründet“ . Der Philosoph Walter Benjamin nannte ihn einen Autor, „hinter dessen wenig auffälliger Außenseite sich ein großes moralisches und großes ästhetisches Problem verbergen“ . Und der Öster reicher Alois Brandstetter hält ihn für einen „Propheten der Entschleuni- gung“ . Die falsche Degradierung des Autors zum Darsteller von Harmo nie und Idylle begann schon mit seinen ersten Veröffentlichungen. Ein Dichterkollege greift Stifter an Im Jahr 1849 veröffentlicht der in Wien lebende norddeutsche Dramati ker Friedrich Hebbel (1813–63) das später von ihm ausdrücklich auf Stifter gemünzte Epigramm „Die alten Naturdichter und die neuen“. Die ersten vier Zeilen lauten: Wisst ihr, warum euch die Käfer, die Butterblumen so glücken? Weil ihr die Menschen nicht kennt, weil ihr die Sterne nicht seht! Schautet ihr tief in die Herzen, könntet ihr schwärmen für Käfer? Säht ihr das Sonnensystem, sagt doch, was wär euch ein Strauß? Hebbels Angriffsmethode, Universum und Blumenstrauß, Tiere und Sterne gegeneinander auszuspielen, mutet zumindest heute recht naiv an. Stifter jedenfalls ist tief getroffen, als „Blumenund Käferpoet“ abgestempelt zu werden. „Hebbel und die verwandten Narren“ , ärgert er sich, „drängen sich auf die Bühne und bringen ihr naturwid- riges Gezerre […], erwischen immer nur das Widerwärtige.“ Hebbels Pauschalurteil Dass Stifter kein „Käferdichter“ ist, hätte Hebbel allerdings selbst feststellen können. Schon in Stifters erster Er zählung „Der Kondor“ aus der Sammlung „Studien“ ist nichts von idyllischer Blumenlandschaft spürbar. Der Himmel ist „ein ganz schwarzer Abgrund […] ohne Maß und Grenze in die Tiefe gehend“ , die Sonne „ein drohendes Gestirn, ohne Wärme, ohne Strahlen, eine scharf geschnittene Scheibe aus wallendem, blähendem, weißgeschmolze- nem Metalle“ . Auch in anderen Werken Stifters bricht eine wilde Natur über die Menschen herein: fürchterliche Dürre im „Haidedorf“, unvorstellbare Gewitter in „Abdias“ und „Kalkstein“, härteste Winter in der „Mappe meines Urgroßvaters“, Hagelstürme in „Katzensilber“. Wenn Stifter Natur schildert, dann auch oft im Bewusst sein ihrer drohenden Ausbeutung unter dem Aspekt reiner Wirtschaftlichkeit: „Alles nimmt auf der Welt ab, der Vogel in der Luft und der Fisch im Wasser“ , so beendet eine alte Frau die Schilderung ihrer Heimat in der Erzäh lung „Die Mappe meines Urgroßvaters“. „Das Geld, ein Ding, erst harmlos“ , dann an Bedeutung zunehmend, schließlich ein „Dämon, seine Farbe wechselnd, […] selbst Ding werdend, ja einzig Ding, das all die andern ver- schlang“ , so heißt es im Text „Wien und die Wiener“. Stifter kontert Die künstlerische Reaktion Stifters lässt bis 1853 auf sich warten. In diesem Jahr erscheint eine zweibändige Sammlung von Erzählungen. Sie trägt den Titel „Bunte Steine“. Die Erzählungen heißen „Granit“, „Kalkstein“, „Turmalin“, „Bergkristall“, „Katzensilber“, „Bergmilch“ . Die Vorrede zur Sammlung, die Sie hier in Ausschnitten finden, ist Stifters Gegenangriff an die Adresse Hebbels: Adalbert Stifter 2 4 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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