Literaturräume, Schulbuch

194 das biedermeier und die literatur des vormärz (1820–1848) Das Schachern um die Kinder Medea sieht ihre Chancenlosigkeit, sie will fort aus Korinth, doch mit ihren Kindern. Das Schachern um ihr letztes „Eigentum“ beginnt. Jason will ihr einen der beiden Söhne überlassen, Medea möchte beide mitnehmen. Der Kompromiss: Die Kinder sollen wählen können, wer mit wem geht. Genau in der Mitte des Stücks lässt Grill­ parzer die Kinder vor Jason, Medea, Kreusa und Kreon führen: Medea: Die Kinder! Meine Kinder! Ja, sie sinds! Das Einzge, was mir bleibt auf dieser Erde. Ihr Götter, […] lasst sie mir beide, beide! Dann will ich gehn und eure Güte preisen, […] Ihr Kinder seht, man schickt die Mutter fort, Weit über Meer und Land, wer weiß wohin? Die gütgen Menschen, euer Vater aber Und der gerechte, gute König da, Sie haben ihr erlaubt, von ihren Kindern, Der Mutter von den Kindern, eines, eins – Ihr hohen Götter, hört ihrs? eines nur! – Mit sich zu nehmen auf die lange Fahrt. Wer nun von beiden mich am meisten liebt, Der komm zu mir, denn beide dürft ihr nicht. Der andre muss zurück beim Vater bleiben Und bei des falschen Mannes falscher Tochter! – Hört ihr? – Was zögert ihr? König: Sie wollen nicht! […] König: Du siehst, Medea, nun, Die Kinder wollen nicht, und also geh! Medea: Sie wollen nicht? Die Kinder die Mutter nicht? Es ist nicht wahr, unmöglich! – Äson, mein Ältester, mein Liebling! Sieh, deine Mutter ruft dir, komm zu ihr! Ich will nicht mehr rau sein und hart, Du sollst mein Kostbarstes sein, mein einzigs Gut, Höre die Mutter! Komm! – Er wendet sich ab! Er kommt nicht! Undankbarer! Ebenbild des Vaters! Ihm ähnlich in den falschen Zügen Und mir verhasst, wie er! Bleib zurück, ich kenne dich nicht! – Aber du, Absyrtus, Schmerzenssohn, […] Sieh, deine Mutter liegt hier knieend für mich und sie! […] Jason: Sieh! sie hören nicht! Medea: Kinder! König (zu Kreusa): Führ sie ins Haus zurück, Nicht hassen sollen sie, die sie gebar. ( Kreusa mit den Kindern zum Abgang gewendet) Medea: Sie fliehen, meine Kinder fliehn vor mir! König (zu Jason): Komm! Das Notwendige beklagt man fruchtlos! (sie gehen) Medea: Meine Kinder! Kinder! Dass die Mutter eine „Barbarin“ ist, haben die Kinder in Korinth von allen Seiten hören müssen. Sie fliehen Medea, um ihre Herkunft abzulegen. Die Integration in Korinth ist ihnen lieber, als mit der Mutter ausgestoßen zu sein. Von Medeas Schlusssätzen zu Grillparzers Weltanschauung Zu Jason gewandt, spricht Medea ihre Schlusssätze: „Was ist der Erde Glück? – Ein Schatten! / Was ist der Erde Ruhm? – Ein Traum!“ Man könnte diese Sätze geradezu als Motto Grillparzers ansehen. Große Erfolge am Anfang seines Schaffens, Zensur, Misserfolg der Tragödie „Des Meeres und der Liebe Wellen“, private Unzufriedenheit, Resignation im Beamtendienst kennzeichnen Grillparzers Leben und Dichten. Die Forderung nach Reformen, die Ablehnung der Revolution und die Angst vor dem Zerfall Österreichs im Zuge des aufkommenden Nationalis­ mus sind weitere Charakteristika des Dichters. In seinem Drama „Der Traum ein Leben“ nimmt Grillparzer Medeas Schlusssätze variiert noch einmal auf. Deutlich zeigt sich Grillparzers Pessimismus gegenüber der An­ schauung von der Berechenbarkeit des Lebens: Schatten sind des Lebens Güter, Schatten seiner Freuden Schar, Schatten Worte, Wünsche, Taten; Die Gedanken nur sind wahr. Eines nur ist Glück hienieden, Eins, des Innern stiller Frieden Und die schuldbefreite Brust. Und die Größe ist gefährlich, Und der Ruhm ein leeres Spiel. Was er gibt, sind nichtge Schatten, Was er nimmt, es ist so viel. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 2 4 6 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 8 10 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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