Literaturräume, Schulbuch

177 grenzenlos grenzenlos „Der Runenberg“ und die Entfremdung der Menschen „Christian im Glück“ Alles fügt sich zunächst bestens für Christian in dem Märchen „Der Runenberg“ von Ludwig Tieck (1804). Er ist von zu Hause fortgezogen, um sein Glück zu machen, kommt in eine idyllische Gebirgsgegend. Dort reißt er eine Wurzel aus der Erde, die Erde stöhnt wie verletzt auf. Christian versinkt in eine Welt zwischen Traum und Reali­ tät, meint im Berginneren die wunderschöne, von Juwelen umgebene Bergkönigin zu sehen. Am nächsten Mor­ gen steigt er in ein unbekanntes Dorf hinunter. Er heiratet die blonde Elisabeth, gründet eine Familie, findet sei­ nen Vater wieder, bestellt die Äcker, das Vieh gedeiht. Die Gier nach Geld entfremdet Da kommt ein Fremder, gibt der Familie eine große Summe an Goldstücken zur Aufbewahrung, reist wieder ab. Christian wünscht, der Fremde möge nicht mehr wiederkommen, dann würde ihm das Geld gehören. Der Vater warnt. Doch es ist zu spät. Christian versteht sich selbst nicht mehr, auch die anderen verstehen ihn nicht, er verliert das Menschliche. Er wird sich selbst fremd, den anderen fremd, sein Herz ist „erstarrt“, seine Wahrneh­ mung verwirrt: Oft stand Christian in der Nacht auf, um die Knechte zur Arbeit zu wecken und selbst nach allem zu sehn; der Vater war besorgt, dass er durch übertriebenen Fleiß seiner Jugend und Gesundheit schaden möchte: daher machte er sich in einer Nacht auf, um ihn zu ermahnen, seine übertriebene Tätigkeit einzuschränken, als er ihn zu seinem Erstaunen bei einer kleinen Lampe am Tische sitzend fand, indem er wieder mit der größten Emsigkeit die Goldstücke zählte. „Mein Sohn“, sagte der Alte mit Schmerzen, „soll es dahin mit dir kommen, ist dieses verfluchte Metall nur zu unserm Unglück unter dieses Dach gebracht? […] – „Ja“, sagte Christian, „ich verstehe mich selber nicht mehr, weder bei Tage noch in der Nacht lässt es mir Ruhe; seht, wie es mich jetzt wieder anblickt, dass mir der rote Glanz tief in mein Herz hineingeht! Horcht, wie es klingt, dies güldene Blut! das ruft mich, wenn ich schlafe, ich höre es, wenn Musik tönt, wenn der Wind bläst, wenn Leute auf der Gasse sprechen; scheint die Sonne, so sehe ich nur diese gelben Augen, wie es mir zublinzelt, und mir heimlich ein Liebeswort ins Ohr sagen will: so muss ich mich wohl nächtlicherweise aufmachen, um nur seinem Liebesdrang genugzutun, und dann fühle ich es innerlich jauchzen und frohlocken, wenn ich es mit meinen Fingern berühre, es wird vor Freuden immer röter und herrlicher; schaut nur selbst die Glut der Entzückung an!“ […] Das Geld wurde wieder weggeschlossen, Christian versprach sich zu ändern und in sich zu gehn, und der Alte ward beruhigt. […] Wie sehr musste er daher erstaunen, als ihn an einem Abend Elisabeth beiseit nahm und unter Tränen erzählte, wie sie ihren Mann nicht mehr verstehe, er spreche so irre, vorzüglich des Nachts […]. – „Allgütiger Gott!“, rief der Vater aus, „ist der fürchterliche Hunger in ihn schon so fest hineingewachsen, dass es dahin hat kommen können? So ist sein verzaubertes Herz nicht mensch- lich mehr, sondern von kaltem Metall; wer keine Blume mehr liebt, dem ist alle Liebe und Gottes- furcht verloren.“ Das Geld zerstört auch die Beziehung zur Natur Die Warnungen des Vaters, den „Hunger nach Metall“ zu zügeln, bleiben unbeachtet, Christians Wahrnehmungs­ fähigkeit und damit die Hochschätzung der lebendigen Natur ist zerstört. Er verwechselt das Lebendige mit dem Toten. Völlig verwirrt erklärt er seinem Vater: [I]n den Pflanzen, Kräutern, Blumen und Bäumen regt und bewegt sich schmerzhaft nur eine große Wunde, sie sind der Leichnam vormaliger herrlicher Steinwelten, sie bieten unserm Auge die schreck- lichste Verwesung dar. […] Frage nur die Steine, du wirst erstaunen, wenn du sie reden hörst. 2 4 6 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=