Literaturräume, Schulbuch

176 DIe romantIk (1795–1835) höchste Strafe, die eine Adelige erhalten konnte. Bettinas Salon blieb jedoch auch zur Zeit der striktesten Zensur eine kritische Gegenöffentlichkeit. In Zusammenhang mit dem „Armenbuch“ entstand auch Bettina von Arnims „Bergpredigt“ über die Armut, aus der Sie hier einen Ausschnitt finden. Beinahe zweitausend Jahre sind seitdem [= seit der Bergpredigt] verflossen und die Armen haben sich bisher beruhigen und einschläfern lassen von der Aussicht ins Jenseits und von den Schlummerliedern von Engeln mit Lilienstängeln in den Händen, die um ihr Schmerzenslager schwebten. Aber in den Tiefen der Zeit ist ein neuer Geist geboren […]. Ihr Toren, die ihr wähnt, dass alles, wie es ist, gut und recht und sicher sei; wenn ihr nicht blind wäret und sein wolltet, ihr würdet gewahren, dass der Boden unter euern Füßen schon zu wanken und zu zittern beginnt, wie das Meer, wenn ein Sturm heraufzieht, und dass es kein Öl gibt, das diese erregten Fluten zu glätten vermöchte. […] Warum sollten wir hungern und dursten, während ihr im Überflusse schwelgt, mit dem unsrer Hände Arbeit euch überhäuft hat? Sind wir nicht Menschen wie ihr? Haben wir nicht Rechte wie ihr? Muss nicht schon hier eine Ausglei- chung zwischen uns vor sich gehen? Ist nicht das Maß der Ungerechtigkeit schon gehäuft voll; soll es noch höher schwellen? Warum emanzipiert ihr die schwarzen Sklaven und ladet das Joch der Sklaverei auf die Schultern freigeborner Weißen? Haben wir nicht einen Geist wie ihr? Warum reicht ihr ihm so spärliche Nahrung? […] – Und der Staat? Sind wir nicht auch seine Kinder? Warum schließt er uns von sich aus? Warum verstößt er uns und lässt uns allein in der Wüste der Hilflosigkeit? – So könnte ein Armer fragen. Bettinas literarisches Engagement: die Günderode Dank Bettina von Arnims Engagement ist auch die wegen ihres psychologischen Scharfblicks heute sehr ge­ schätzte romantische Dichterin Karoline von Günderode (1780–1806) nicht in Vergessenheit geraten. Bettina von Arnim veröffentlichte 1840, vierunddreißig Jahre nach dem Selbstmord der Günderode, den Briefroman „Die Günderode“, in dem sie auf die gesellschaftlichen Schwierigkeiten hinwies, die sich einer dichtenden Frau damals entgegenstellten. Als Anhängerin der Ideen der Französischen Revolution erhoffte sich die Günderode die Umsetzung der Ideale „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ in die Realität. Doch bald sah sie ihre Hoffnungen durch die politische Entwicklung und vor allem durch die geschlechtsspezifischen Einengungen als Frau ge­ täuscht: „Warum ward ich kein Mann! Ich habe keinen Sinn für weibliche Tugenden, für Weiberglückseligkeit. Nur das Wilde, Große, Glänzende gefällt mir.“ In der Natur, den Mythen und im Dichten suchte sie Ausgleich für die frustrierende Wirklichkeit: „Gedichte sind Balsam auf unfüllbares Leben.“ Um ihren Gedichten ein größeres Publi­ kum zu verschaffen, veröffentlichte sie die Texte unter männlichen Pseudonymen. Das Leben sieht sie als von Berechnung und Nützlichkeitskeitsdenken beherrscht, das Wunderbare ist aus der Welt vertrieben: 2 4 6 8 10 12 14 2 16 18 20 22 24 26 28 Der Himmel ist gestürzt, der Abgrund ausgefüllt, Und mit Vernunft bedeckt, und sehr bequem zum Gehen. [...] Und auf der flachen Erde schreitet der Verstand, Und misset alles aus, nach Klafter und nach Schuhen 1 . Schon als Einundzwanzigjährige erwog sie die Flucht aus dem „pygmäischen Zeitalter“ in den „Heldentod“ . Zum Zusammenbruch führte ihr Liebesverhältnis zu einem verheirateten Mann, dem bedeutenden Sprachforscher Georg Friedrich Creuzer. Heimliche Treffen, Fluchtpläne, vor allem aber die zögerliche Haltung des Mannes, sich zur Günderode zu bekennen, charakterisierten die Beziehung. Acht Tage nachdem Creuzer seine Beziehung zu ihr abgebrochen hatte – die Nachricht ließ er von einem Dritten überbringen –, erdolchte sich die Günderode. Creuzer vernichtete nach ihrem Tod die Handschriften ihrer Werke sowie die sich bereits im Druck befindende Gedichtsammlung „Melete“, weil er sich in manchen Figuren wiedererkannte und gesellschaftlich kompro­ mittiert fühlte. Durch Zufall wurde ein einziges fragmentarisches Exemplar dieses Bandes am Ende des 19. Jahr­ hunderts wiederentdeckt und 1906 zum 100. Todestag der Günderode zum ersten Mal herausgegeben. 1 Klafter, Schuh: alte Längenmaße; etwa 1,7 bzw. zwischen 0,25 und 0,34 m 4 AUFGABE > Resümieren Sie die Vorwürfe an den Staat, die Reichen und die kritische Betrachtung der Religion! Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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