Literaturräume, Schulbuch
Resignation statt Romantisierung der Realität Die von Eichendorff bemerkte Auflösung des erträumten harmonischen Zusammenlebens zwischen Mensch und Natur in der industriellen Zivilisation beeinflusst auch die Anschauungen über die Möglichkeiten der Dich tung. Der frühromantische Glaube, dass Literatur die Realität verwandeln könne, ist für den späten Eichendorff nicht mehr nachvollziehbar. 5 Eines der berühmtesten deutschen Lieder: nur vordergründig idyllisch Wilhelm Müller: „Am Brunnen vor dem Tore“ (1823) Man kennt nicht Müller, sondern Schubert Wer kennt noch den Autor Wilhelm Müller? Zu seiner Zeit war er allerdings berühmt, vor allem wegen seiner „Griechenlieder“, in denen er den Unabhängigkeitskampf der Griechen gegen die Türken feierte und gleichzeitig die undemokratischen Verhältnisse in Deutschland kritisierte. Die Zensur reagierte, viele seiner Lieder wurden verboten, auch der aus 24 Liedern bestehende Zyklus „Die Winterreise“. Die Lieder sind durch die Vertonung Schuberts in die musikalische Weltliteratur eingegangen. Schauerliche Lieder Mit folgenden Sätzen präsentierte Schubert seinen Freunden die „Winterreise“: „Ich werde euch einen Zyklus schauerlicher Lieder vorsingen. Ich bin begierig zu sehen, was ihr dazu sagt. Sie haben mich mehr angegriffen, als dies bei anderen der Fall war. Mir gefallen diese Lieder mehr als alle, und sie werden euch auch noch gefallen.“ Die Reaktion war verhalten. Nur der „Lindenbaum“ gefiel. 1827, ein Jahr vor seinem Tod, vollendet Schubert die „Winterreise“. Die „Handlung“ des Gedichtzyklus ist die Winterwanderung eines vor persönlichen Bindungen zurückschreckenden jungen Mannes voller Todesahnungen. Früher hatte er eine Liebe, sogar mit Aussicht auf Ehe. Aber dann wählte die Geliebte einen anderen. Motive von Wahnsinn, Todeskälte, sinnlosem Herumwan dern und schmerzhafter Erinnerung an glücklichere Tage charakterisieren die Texte. „Am Brunnen vor dem Tore“: keine Dorfidylle Als Teil der „Winterreise“ ist auch „Der Lindenbaum“, eines der Lieblingslieder von Chören, keine „Seelenschnul ze“, als die sie manchmal interpretiert wird, wenn man das Lied aus dem Zusammenhang reißt. Hinter der schein baren Idylle taucht die Ausweglosigkeit des Wanderers auf. Die Einladung, welche die Zweige des Baumes in der vierten und letzten Strophe aussprechen, ist nicht die Einladung zu einem geruhsamen Schläfchen auf der Wiese, sie ist die Einladung zum Tod. „Lied eines Selbstmörders“ , so krass hat ein Literaturkritiker dieses Gedicht genannt. 171 DER LESERAUM Der Lindenbaum Am Brunnen vor dem Tore Da steht ein Lindenbaum: Ich träumt in seinem Schatten So manchen süßen Traum. Ich schnitt in seine Rinde So manches liebe Wort; Es zog in Freud und Leide Zu ihm mich immerfort. Ich musst auch heute wandern Vorbei in tiefer Nacht, Da hab ich noch im Dunkel Die Augen zugemacht. Und seine Zweige rauschten, Als riefen sie mir zu: „Komm her zu mir, Geselle, Hier findst du deine Ruh!“ Die kalten Winde bliesen Mir grad ins Angesicht, Der Hut flog mir vom Kopfe, Ich wendete mich nicht. Nun bin ich manche Stunde Entfernt von jenem Ort, Und immer hör ich’s rauschen: Du fändest Ruhe dort. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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