Literaturräume, Schulbuch

170 DIe romantIk (1795–1835) Eichendorff an der Schwelle zur Moderne Doch Eichendorff ist nicht bloß der naive Sänger von Sehnsucht, Wan­ dern, Glück und intakter Natur, als der er oft ausschließlich gesehen wird. In Eichendorffs Leben und Dichtung bricht die Industrialisierung viel in­ tensiver ein als in die Welt der Frühromantiker. 1839 beginnt der 51jäh­ rige Eichendorff mit seiner Autobiographie. Auch von einer Eisenbahn­ fahrt ist darin die Rede. Während das Wandern Gemeinschaft stiftete, ist das Reisen mit der Eisenbahn durch wechselnde Zufallsbekanntschaften bestimmt. Eichendorff wird dies zum Symbol einer fremd werdenden Welt. An einem schönen warmen Herbstmorgen kam ich auf der Eisenbahn vom andern Ende Deutschlands mit einer Vehemenz dahergefahren, als käme es bei Lebensstrafe darauf an, dem Reisen, das doch mein alleiniger Zweck war, auf das allerschleunigste ein Ende zu machen. Diese Dampffahrten rütteln die Welt, die eigentlich nur noch aus Bahnhöfen besteht, unermüdlich durcheinander wie ein Kaleidoskop 1 , wo die vorüberjagenden Land- schaften, der fliegende Salon immer andere Sozie- täten 2 bildet, ehe man noch irgendeine Physiogno- mie 3 gefasst, immer neue Gesichter schneiden. Diesmal blieb indessen eine Ruine rechts überm Walde ganz ungewöhnlich lange in Sicht. Europa- müde vor Langerweile fragte ich […] nach Namen, Herkunft und Bedeutung des alten Baues; erfuhr aber zu meiner größten Verwunderung weiter nichts als gerade das Unerwartetste, dass nämlich dort oben ein Einsiedler hause. […] Ich beschloss […], auf der nächsten Station zurückzubleiben und den seltsamen Kauz womöglich in seinem eignen Neste aufzusu- chen. Das war aber nicht so leicht, wie ich’s mir vorgestellt hatte. In den Bahnhöfen ist eine so große Eilfertigkeit, dass man vor lauter Eile mit nichts fertig werden kann. Die Leute wussten genau, in welcher Stunde und Minute ich in Paris oder Triest oder Königsberg, wohin ich nicht wollte, sein könne, über Zugang und Entfernung des geheimnis- vollen Waldes aber, wohin ich eben wollte, konnte ich nichts Gewisses erfahren; ja der Befragte blickte verwundert nach der bezeichneten Richtung hin, ich glaube, er hatte die Ruine bisher noch gar nicht bemerkt. Joseph von Eichendorff 1 fernrohrähnliches Spielzeug, bei dem sich durch Schütteln Glasteilchen zu immer neuen Bildern anordnen 2 ImWaggon bilden sich ständig wechselnde„Fahrgemeinschaften“. 3 Aussehen eines Menschen, Gesichtsausdruck 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 AUFGABEN > Wo befindet sich das lyrische Ich „geographisch“ (Details)? > Welche optischen und akustischen Eindrücke dringen auf das Ich ein, welche Wünsche rufen sie wach? > Welche Landschaftsgegensätze werden im Lied der „zwei jungen Gesellen“ geschildert? > Welches Land könnte die Romantik, ähnlich wie die Klassik, mit der dritten Strophe meinen? AUFGABEN > Welche negativen Konsequenzen hat laut Autor das Fahren mit der Eisenbahn? > Welche Paradoxa sieht der Autor – was kennen und wissen die Menschen, was nicht? > Notieren Sie in Gruppenarbeit Pro und Kontra einer Wanderung beziehungsweise Autooder Zugsfahrt, vom Standort Ihrer Schule zu Ihrem Wohnort/Ihrem Bezirkshauptort/Ihrer Landeshauptstadt/der Bundeshauptstadt oder einem Ort Ihrer Wahl. > Befassen Sie sich in freier Form mit den folgenden Sätzen des französischen „Geschwindigkeitsforschers“ Paul Virilio, geboren 1932: Der Verlust von taktilen Eindrücken, von Geruchseindrücken, wie sie die direkte Fortbewegung noch lieferte, lässt sich nicht durch das Vorbeiziehen der Bilder an der Windschutzscheibe des Autos ersetzen. Wird die Gewöhnung an die Trance der hohen Geschwindigkeiten und die Gleichgültigkeit gegenüber den durchquerten Landschaften zur Gleichgültigkeit gegenüber den Beziehungen zu unseren Mitmenschen verleiten? Nur zu Prüfzwecken – Eig ntum des Verlags öbv

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