Literaturräume, Schulbuch
168 DIe romantIk (1795–1835) Woran erkennt man ein Märchen? Ein Märchen ist gekennzeichnet durch: • Eindimensionalität: keine Unterscheidung zwischen real und irreal; • Dreizahl: drei Wünsche, Aufgaben, Versuche, oft auch drei Hauptpersonen. Die DreierStrukturierung ist auch eine Merkhilfe für den Erzähler; • Flächenhaftigkeit: weder Schauplatz noch Zeitpunkt oder Zeitverlauf (die Figuren altern nicht) noch Personen werden näher beschrieben; • Formelhaftigkeit: Eingangsformeln, die in das Märchenland „entführen“ wollen und Schlussformeln, die das Publikum wieder „zurückholen“; • Isolation: meist müssen Held oder Heldin in der Isolation ihre Prüfung bestehen: z. B. die Eltern sind tot oder haben sie verstoßen; • Polarisation: Extreme Zeichnung sowohl der Personen (ganz gut und schön oder abgrundtief böse und häss lich) als auch der Situationen (so arm, dass sie nichts mehr zu essen haben oder unvorstellbare Reichtümer, die gewonnen werden); auch die Aufgaben, die es zu erfüllen gilt, sind extrem (einen Berg abtragen, einen Riesen töten); • Achtergewicht (achtern = hinten; ein Begriff aus der Schifffahrt): Das Märchen steht mit seiner Sympathie dort, wo die „Letzten“, „Hintersten“ sind, auf der Seite der Schwächsten, der „Dummen“; • Das gute Ende: Märchen enden durchwegs gut: Bestrafung der Bösen, Belohnung der Mutigen, Aufstieg der „Kleinen“ und Unbedeutenden, Erfüllung der Sehnsucht nach Liebe oder Gerechtigkeit, Wiedererlangung der menschlichen Gestalt nach Verwandlungen, die von bösen Kräfte verursacht wurden. Dieses Ende wird jedoch nach Kulturen verschieden ausgeformt. Englische Märchen enden mit dem Satz „Sie lebten glücklich auf im mer“, französische Märchen verwenden den Schlusssatz „Und sie hatten viele Kinder“, den Schluss deutscher Märchen bildet oft die Formel „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“. INFO Das Märchen kommt von mære. Das mittelhochdeutsche Wort bedeutet Nachricht. Im Gegensatz zum Märchen ist in der Sage der Ort bestimmt („Der Lindwurm zu Klagenfurt“, „Der Stock im Eisen“, „Die weiße Frau von Krems“). In den Sagen dominiert das Dämonische, Tödliche. Heutzutage kein Bedarf mehr an Märchen? Im Gegenteil: Das Buchsegment „Märchen, Sagen, Fabeln“ kann unter allen Buchgruppen das Verkaufsvolumen noch immer steigern. Und auch „märchennahe“ Bücher boomen, siehe die FantasyRomane von Marion Zimmer Bradley bis „Harry Potter“. Sie verwenden dieselben Personen und Situationen wie Märchen: Zwerge und Riesen, Prinzen und Prinzessinnen, Feen, sprechende Tiere, Hexen, mythische Gegenstände, Zaubersprüche und kom men zu einem guten Ende. AUFGABEN > Welche Hinzufügungen sind von Fassung zu Fassung festzustellen? > Aus welchen Gründen dürften diese Änderungen vollzogen worden sein? AUFGABEN > Suchen Sie sich eines der „Grimm’schen Märchen“ – Ihr „Lieblingsmärchen“ – oder eines der „Bechstein Märchen“ – Bechstein war der zweite wichtige Märchensammler der späten Romantik – aus und überprüfen Sie, inwiefern diese Kriterien für Märchen darauf zutreffen. Lesen Sie Ihr Märchen in der Klasse vor und präsentieren Sie Ihre Analyseergebnisse! Märchen aus den österreichischen Bundesländern, vom „Schloss im Pomeranzengarten“ über „Die hüpfende Schlafhaube“ bis zu „Der gefangene Schratl und der reiche Julius“, finden Sie zum Beispiel in „Österreichische Märchen“, herausgegeben von Ingo Reiffenstein. > Lassen Sie sich von Ihren Mitschülern/Mitschülerinnen anderer Muttersprache ein Märchen aus deren Kulturkreis präsentieren und stellen Sie fest, welche Ähnlichkeiten oder Abweichungen es im Vergleich zu deutschsprachigen Märchen ähnlicher Thematik gibt! Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des V rl gs öbv
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