Literaturräume, Schulbuch
Es sang vor langen Jahren Wohl auch die Nachtigall, Das war wohl süßer Schall, Da wir zusammen waren. Ich sing und kann nicht weinen Und spinne so allein Den Faden klar und rein, So lang der Mond wird scheinen. Da wir zusammen waren, Da sang die Nachtigall Nun mahnet mich ihr Schall, dass du von mir gefahren. So oft der Mond mag scheinen, Gedenk ich dein allein, Mein Herz ist klar und rein Gott wolle uns vereinen. Seit du von mir gefahren, Singt stets die Nachtigall, Ich denk bei ihrem Schall, Wie wir zusammen waren. Gott wolle uns vereinen, Hier spinn ich so allein, Der Mond scheint klar und rein, Ich sing und möchte weinen! 165 Der leseraum 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 Ohne Zweifel weist das Lied am Spinnrad über das gängige Motiv „Verlorene Liebe“ hinaus. Ein Interpret bezeichnet es als typisch für das Gesamtthema der Romantik, „das Thema vom verlorenen Paradies, die Klage um seinen Verlust, die Sehnsucht nach seiner Regeneration“ . Auch das zweite hier zitierte Gedicht enthält diese Aspekte, ist aber noch stärker von der Sprache als vom Inhalt her bestimmt. Was reif in diesen Zeilen steht, Was lächelnd winkt und sinnend fleht, Das soll kein Kind betrüben, Die Einfalt hat es ausgesäet, Die Schwermut hat hindurchgeweht Die Sehnsucht hat’s getrieben; Und ist das Feld einst abgemäht, Die Armut durch die Stoppeln geht, Sucht Ähren, die geblieben, Sucht Lieb’, die für sie untergeht, Sucht Lieb’, die mit ihr aufersteht, Sucht Lieb’, die sie kann lieben, Und hat sie einsam und verschmäht Die Nacht durch dankend in Gebet Die Körner ausgerieben, Liest sie, als früh der Hahn gekräht, Was Lieb’ erhielt, was Leid verweht, Ans Feldkreuz angeschrieben, O Stern und Blume, Geist und Kleid, Lieb’, Leid und Zeit und Ewigkeit! Hermetische Poesie Brentanos später Lyrik geht es oft nicht mehr um unmittelbare Verständlichkeit. Gerade zu „Was reif in diesen Zeilen steht“ erklärten selbst Brentanos Freunde, den Text nicht zu „verstehen“. Aber auch das ist „romantisches Programm“. Die sprachlichen Bilder nehmen auf Anschaulichkeit wenig Rücksicht. Sie können nur vom Autor aufgelöst werden. Auf eine nachvollziehbare Aussage über die Wirklichkeit wird verzichtet, das Gedicht selbst will durch eine neue Sprache eine autonome Wirklichkeit erschaffen. Brentano ist damit ein Vorläufer der „hermetischen Poesie“ des 20. Jahrhunderts. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 AUFGABEN > Benennen Sie das Thema des Gedichts! > Welche Wörter würden Sie als „typisch“ romantische Vokabel bezeichnen? > Stellen Sie Vergangenheit und Gegenwart der Sängerin dar und ihren Wunsch an die Zukunft! > Geben Sie dem Gedicht einen treffenden Titel! > Die Literaturwissenschaft sieht den „Reiz“ des Textes in der Verbindung von (scheinbarer) Einfachheit und raffinierten sprachlichen Variationen. Versuchen Sie dies mit folgenden Analysen nachzuvollziehen: Wie viele („wie wenige“) verschiedene Reime weist das Gedicht auf? > Bei flüchtigem Lesen könnte man meinen, dass die letzten vier Strophen mehr oder minder Wiederholungen der ersten beiden seien. Doch wie viele Verszeilen bleiben tatsächlich unverändert? Nur zu Prüfzwecken – Eig ntum des Verlags öbv
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