Literaturräume, Schulbuch

Becken. Es dünkte ihn, als umflösse ihn eine Wolke des Abendrots; eine himmlische Empfindung überströmte sein Inneres; mit inniger Wollust strebten unzählbare Gedanken in ihm sich zu vermischen; neue, nie gesehene Bilder entstanden, die auch in einander flossen und zu sichtbaren Wesen um ihn wurden, und jede Welle des lieb- lichen Elements schmiegte sich wie ein zarter Busen an ihn. Die Flut schien eine Auflösung reizender Mädchen […]. Berauscht von Entzücken und doch jedes Eindrucks bewusst, schwamm er gemach dem leuchtenden Strome nach, der aus dem Becken in den Felsen hineinfloss. Eine Art von süßem Schlum- mer befiel ihn, in welchem er unbeschreibliche Begebenheiten träumte und woraus ihn eine andere Erleuchtung weckte. Er fand sich auf einem weichen Rasen am Rande einer Quelle, die in die Luft hinausquoll und sich darin zu verzehren schien. Dunkelblaue Felsen mit bunten Adern erhoben sich in einiger Entfernung; das Tageslicht [,] das ihn umgab, war heller und milder als das gewöhnliche, der Himmel war schwarzblau und völlig rein. Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe lichtblaue Blume, die zunächst an der Quelle stand, und ihn mit ihren breiten, glänzenden Blättern berührte. Rund um sie her standen unzählige Blumen von allen Farben, und der köstlichste Geruch erfüllte die Luft. Er sah nichts als die blaue Blume und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stängel, die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blütenblät- ter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte. Sein süßes Staunen wuchs mit der sonderbaren Verwandlung, als ihn plötzlich die Stimme seiner Mutter weckte und er sich in der elterlichen Stube fand, die schon die Morgensonne vergoldete. 163 Der leseraum Das neue Leben Heinrich verlässt seine Familie, begreift, dass er zum Dichter geboren ist. Was ein Dichter ist, erfährt er auf seinen Reisen. Dichter sind die, die „das geheime Leben der Wälder, die in den Stämmen verborgenen Geister aufgeweckt, in wüsten, verödeten Gegenden den toten Pflanzensamen erregt, und blühende Gärten hervorgerufen, grausame Tiere gezähmt und verwilderte Menschen zu Ordnung und Sitte gewöhnt, sanfte Neigungen und Künste des Friedens in ihnen rege gemacht, reißende in milde Gewässer verwandelt, und selbst die totesten Steine in regelmäßige tan- zende Bewegungen hingerissen haben“ . Sie sind „zugleich Wahrsager und Priester, Gesetzgeber und Ärzte“ . In Begeg­ nungen mit einem Einsiedler, einem Bergmann und einem Gärtner – „beliebten“ Figuren der romantischen Dich­ tung – begreift er seine Aufgabe. Die Harmonie, die in der Welt verborgen und verschüttet ist, muss der Dichter wiederherstellen. Auch die grausame menschliche Geschichte wird mit der Kraft der Dichter zu einem ewigen Frieden führen. Auf seiner Fahrt findet Heinrich seine Liebe in Mathilde, der Tochter des Minnesängers Klingsor. Doch Mathilde stirbt. Damit endet der erste Teil des Romans. Er trägt den Titel „Die Erwartung“. Der zweite Teil AUFGABEN 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 > Beschreiben Sie Heinrichs Sinneswahrnehmungen und die blaue Blume! Ersetzen Sie dazu in einer ersten Etappe alle heute ungebräuchlichen oder ungewöhnlichen Wörter durch geläufige Begriffe. > Das Eintauchen in Wasser symbolisiert in vielen Kulturen eine körperliche und seelische Neugeburt. Suchen Sie, eventuell in Zusammenarbeit mit dem Fach Religion, nach Riten, die mit der Reinigung durch Wasser den Menschen zu einem „neuen“ Leben führen (Katholisches, Evangelisches, Orthodoxes Christentum, Judentum, Islam, christliche Sekten, Hinduismus, „Äquatortaufe“)! > Welche Lieblingsfarben haben die Mitglieder Ihrer Klasse, welche Assoziationen und Symbole werden mit diesen Farben verbunden? > Suchen Sie Sprichwörter und Redewendungen mit Farben, wie zum Beispiel „Ins Blaue fahren“, „Mit einem blauen Auge davonkommen“ etc., und versuchen Sie deren Bedeutung und Hintergrund festzustellen. Ein Literaturtipp: Lutz Röhrich: „Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten“ (Taschenbuchausgabe 2006, auch auf CDROM). > Welche Farben haben eine bestimmte politische oder gesellschaftliche Bedeutung? Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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