Literaturräume, Schulbuch
162 DIe romantIk (1795–1835) Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ – zunächst sehr bewundert … Die frühen Romantiker hatten Goethes 1795/96 erschienenen Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ zunächst mit Bewunde rung gelesen. In ihm fanden sie diese Mischung aus Gedichten, Handlung, Reflexionen, Briefen, theatralischen Szenen, geheim nisvollen Personen, die sie schätzten. Faszinierend war für sie vor allem der Anfang des „Meister“. Der Kaufmannssohn Wilhelm will leidenschaftlich zum Theater. Er beginnt zwar, nach ent täuschter Liebe zu einer Schauspielerin, auf Wunsch des Vaters eine Geschäftsreise, zieht aber dann doch mit einer Schauspie lertruppe umher. Dort möchte er seine Persönlichkeit formen, die bürgerliche Alltagswelt hinter sich lassen. Eine Aufführung des „Hamlet“, bei der er die Hauptrolle verkörpert, ist der Höhepunkt seines Schauspielerlebens. Doch bald gerät er in den Kreis der adeligen „Turmgesellschaft“, die ihn belehrt, dass sein Leben zu „meistern“ und eine Persönlichkeit zu werden, bedeute, für die Gemeinschaft tätig zu sein. Verantwortung und Einfügen in die bürgerliche Gesellschaft sind die Pfeiler eines solchen Lebens. Wilhelm verlässt das Theater und gliedert sich in die Gesellschaft ein, will in ihr wirksam werden. … doch dann heftig abgelehnt Je mehr sich die Romantiker mit dem „Wilhelm Meister“ befassten und je mehr die Handlung des Romans fort schritt, umso mehr distanzierten sie sich von Goethes Roman. Die Richtlinie der „Turmgesellschaft“ für Wilhelm lautet: „Der Mensch ist nicht eher glücklich, als bis sein unbedingtes Streben sich selbst seine Begrenzung bestimmt.“ „Begrenzung“ war das Gegenteil dessen, was die Romantiker von Poesie und Leben forderten. Am schärfsten wandte sich nun Novalis gegen Goethes Roman: „Es ist im Grunde ein fatales und albernes Buch […] undichterisch in höchstem Grade. […] Das Romantische geht in ihm zugrunde, […] das Wunderbare. Es handelt bloß von gewöhn- lichen menschlichen Dingen – die Natur und der Mystizismus sind ganz vergessen. Er ist eine […] bürgerliche und häusliche Geschichte. […] Es ist mir unbegreiflich, wie ich so lange habe blind sein können“ , heißt es in einem Brief an Ludwig Tieck. Mit seinem „Heinrich von Ofterdingen“ wollte Novalis den bürgerlichen Bildungsroman Goe thes auf romantische Art korrigieren und übertreffen. Lieber die blaue Blume finden, als Adeliger zu werden Wilhelm Meister als Person gehe es eigentlich gar nicht um seine Ausbildung zur Persönlichkeit, er möchte als Bürgerlicher nur gerne in den Adelsstand erhoben werden, eine „Wallfahrt nach dem Adelsdiplom“ unternehmen, so sieht Novalis nun die Person Wilhelms. Heinrich von Ofterdingen hingegen, die Hauptfigur von Novalis ’ im Mittelalter spielendem Roman, verfolgt ein ganz anderes Lebensziel. Der zwanzigjährige Heinrich aus Eisenach in Thüringen am Fuße der Wartburg ist von einem Unbekannten besucht worden, der in ihm die Sehnsucht nach der blauen Blume erweckt: „[D]ie blaue Blume sehn’ ich mich zu erblicken. Sie liegt mir unaufhörlich im Sinn, […] es ist, als hätt’ ich vorhin geträumt, oder ich wäre in eine andere Welt hinübergeschlummert. […] Ich hörte einst von alten Zeiten reden; wie da die Tiere und Bäume und Felsen mit den Menschen gesprochen hätten. Mir ist grade so, als wollten sie allaugenblicklich anfangen, und als könnte ich es ihnen ansehen, was sie mir sagen wollten. […] Der Jüngling verlor sich allmählich in süßen Fantasien und entschlummerte.“ Das Unbewusste sieht mehr als das Bewusste Heinrich gerät im Traum, dem Spiegel des Unbewussten, das mehr weiß als das Bewusste, in eine unterirdische Höhle, in der sich ein Becken befindet. INFO Die Fortsetzung der „Lehrjahre“, „Wilhelm Meisters Wanderjahre“, erscheint 1821. Der Untertitel „Die Entsagenden“ betont die Notwendigkeit der Einordnung des Einzelnen in die Gemeinschaft. Das Ideal der unabhängigen Persönlichkeit muss zurückstehen hinter Leistung und Nutzen für die anderen. Die soziale Arbeit macht den Wert des Menschen aus. Wilhelm wird Wundarzt. Er näherte sich dem Becken, das mit unendlichen Farben wogte und zitterte. Die Wände der Höhle waren mit […] Flüssigkeit überzogen, die nicht heiß, sondern kühl war, und an den Wänden nur ein mattes, bläuliches Licht von sich warf. Er tauchte seine Hand in das Becken und benetzte seine Lippen. Es war, als durchdränge ihn ein geistiger Hauch, und er fühlte sich innigst gestärkt und erfrischt. Ein unwiderstehliches Verlangen ergriff ihn sich zu baden, er entkleidete sich und stieg in das 2 4 6 8 10 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=