Literaturräume, Schulbuch

nahezu religiösen Status. Die Liebe und die Kunst, vor allem die Poesie werden zur Offenbarung und lassen ver­ borgene Wahrheiten zum Vorschein kommen. In Wackenroders „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ (1797) spricht der Autor von „zwei wunderbaren Sprachen“ , die Gott den Menschen vergönnt hat, um die Schöpfung zu begreifen: „Die eine dieser wundervollen Sprachen redet nur Gott; die andere reden nur wenige Auserwählte unter den Menschen […]. Ich meine die Natur und die Kunst. […] Die Kunst aber richtet unsern Blick in unser Inneres, und zeigt uns das Unsichtbare, ich meine alles was edel, groß und göttlich ist, in menschlicher Gestalt.“ Novalis meint: „Absolute Liebe […] ist Religion.“ Kunst hat Zauberwörter Der Glaube, dass Poesie magische Kraft hat, die den Menschen tiefer blicken lässt als der Verstand, kennzeichnet die gesamte frühe Romantik. „Zauberwörter“ können die Welt verändern, den Menschen zu seinem wahren Wesen bringen. Das folgende Gedicht aus dem Roman „Heinrich von Ofterdingen“ von Novalis (1) zeigt dieses Programm: 159 DIe lIteraturübersIcht Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren Sind Schlüssel aller Kreaturen, Wenn die, so singen oder küssen, Mehr als die Tiefgelehrten wissen, Wenn sich die Welt in’s freie Leben, Und in die Welt wird zurück begeben, Wenn dann sich wieder Licht und Schatten Zu echter Klarheit werden gatten, Und man in Märchen und Gedichten Erkennt die ewgen Weltgeschichten, Dann fliegt vor Einem geheimen Wort Das ganze verkehrte Wesen fort. Philosophische Inspiration durch Fichte Seit 1794 lehrte der Philosoph Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), Schüler Kants, an der Universität Jena seinen „subjektiven Idealismus“. Fichtes Gedanke von der Bedeutung des menschlichen Bewusstseins fand bei den Ro­ mantikern großen Widerhall. Das „absolute Ich“ bestimmt laut Fichte unser Dasein. Das „Ich“ erkennt sich selbst und weiß auch, dass es von Natur, Umwelt, anderen Menschen, dem „Nicht-Ich“ , unterschieden ist. Damit gibt dieses Ich der Welt erst Ordnung und Struktur. Diese Struktur ist einzig und allein das Produkt des Ich und seiner Vorstellungskraft. Philosophische Inspiration durch Schelling Den Gegensatz von Ich und Umwelt versuchte Friedrich Wilhelm Schelling (1775–1854) in seinen „Ideen zu ei­ ner Philosophie der Natur“ aufzuheben. Für ihn sind Gott und die Schöpfung eins. Daher ist auch das Ich ein Teil dieses Ganzen. Die schöpferische Phantasie des Ich ist deshalb nichts Willkürliches und Subjektives, sondern das Resultat der Einheit von Ich und Welt. Schillers Einfluss Um die Rationalisierung und Entpoetisierung des Lebens zu überwinden, setzten die Romantiker auch auf Gedanken, die schon Friedrich Schiller in seiner Schrift „Über naive und sentimentalische Dichtung“ (1795/96) formuliert hatte. Schiller lehrte zu dieser Zeit an der Universität Jena, einem Zentrum der Frühromantiker. Die „naive“ Dichtung fühlt sich laut Schiller noch im Einklang mit der Natur, wie dies etwa für die Antike gilt. In der 2 4 6 8 10 12 AUFGABEN > Welche gegensätzlichen Möglichkeiten, die Welt zu erkennen, beschreibt das Gedicht von Novalis? Womit gelangt man nach Novalis’ Ansicht zu wirklicher Erkenntnis und „echter Klarheit“? Wer/was bleibt an der Oberfläche? > Beschreiben Sie den Satzbau des Gedichtes! > Das Wissen um „Zauberworte“ ist in vielen Kulturen ein Weg, um Unheil abzuwehren oder Glück zu erlangen. Oft verwenden auch Märchen dieses Motiv. Um welches geheime Wort der Unheilabwehr geht es zum Beispiel im „Rumpelstilzchen“ – siehe auch Text (3) dieses Kapitels? Welches Wort öffnet in „Ali Baba und die 40 Räuber“ das Tor zum Reichtum? Welches Zauberwort wirkt auf welche Weise in „Kalif Storch“ von Wilhelm Hauff? Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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