Literaturräume, Schulbuch

155 Die Frage der Epochen Epochenbegriffe: nicht immer unumstritten, aber brauchbar Von wann bis wann war zum Beispiel „Sturm und Drang“? Das Jahr 1759 könne als der Beginn des „Sturm und Drang“ angesehen werden, das meinen manche Wissen­ schafter/Wissenschafterinnen. In diesem Jahr erschien das Werk „Sokratische Denkwürdigkeiten“ von Johann Georg Hamann. Andere urteilen, Herders Fragmente „Über die neuere deutsche Literatur“ von 1767 seien als Anstoß viel wichtiger gewesen oder zumindest seine Begegnung mit Goethe 1770 in Straßburg. Und für wann sei das Ende der Epoche anzusetzen? Manche plädieren für 1784, das Erscheinungsjahr von „Kabale und Liebe“. An­ dere erklären, das Ende der Periode sei mit 1782 zu fixieren, dem Jahr von Goethes Erhebung in den Adelsstand. Für manche gibt es die „Klassik“ gar nicht Dass Beginn und Ende der „Klassik“ von der Wissenschaft ebenso nicht einheitlich bestimmt werden, wissen Sie nach der Beschäftigung mit dem „Klassik-Kapitel“. Doch die Unklarheit um die „Klassik“ geht noch weiter. Literaturgeschichten außerhalb des deutschen Sprachraums fassen die literarische Epoche von 1700 bis 1830 oft unter dem Begriff „Aufklärung und Romantik“ zusammen. Goethe zum Beispiel erscheint in der französischen Literaturwissenschaft als „Romantiker“, da die Franzosen den Begriff Klassik für ihre großen Autoren des 17. Jahrhunderts wie Pierre Corneille, Jean Racine und Molière verwenden. Epochen sind nicht „fein säuberlich trennbar“ Die Problematik der Epochenbezeichnungen verstärkt sich mit dem 19. und 20. Jahrhundert. Epochen laufen zeitlich parallel oder überschneiden sich. Ein Wissenschafter präzisiert diese Problematik so: „Immer herrscht die Gleichzeitigkeit des Verschiedenen […]. Aufklärung, Sturm und Drang, Klassik, Romantik: die Namen erwecken die Illusion, als gäbe es tatsächlich diese Epochen […] im genannten Gänsemarsch.“ Noch mehr Ungenauigkeiten In diesem Buch und in vielen anderen ist die literarische Periode von 1600 bis 1720 mit dem Etikett Barock ver­ sehen. Wie sieht es aber mit der Bezeichnung Barock für andere Künste aus? 1740, als Gottscheds „Deutsche Schaubühne“ zu erscheinen beginnt, ein typisches Werk der Aufklärung, entstehen die zu den berühmtesten barocken Musikstücken zählenden „Concerti grossi“ Händels und sein Oratorium „Messias“. Gleichzeitig mit Bachs barockem Meisterwerk „Kunst der Fuge“ entsteht Lessings aufklärerisches Toleranzdrama „Die Juden“ (1749). Schloss Schönbrunn erhält seine prächtige barocke Umgestaltung beinahe zur gleichen Zeit, nämlich 1744–49. Die Ursachen für die Problematik der literarischen Epochen Historische Epochen können meist aus den politischen Fakten abgeleitet werden, etwa definiert nach Herrschern – „Die Zeit Maria Theresias“ – oder besonderen Ereignissen – „Österreich vom Wiener Kongress bis 1830“. Literarische Epochen hingegen sind zwar nicht willkürlich, aber doch mehr oder minder künstlich. Die uns so geläufige Einteilung der Literatur in Barock – Aufklärung – Klassik – Romantik – Realismus etc. gibt es erst seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, als man die Literatur übersichtlich für ein großes Publikum – und Schü­ lerinnen und Schüler – einteilen und Werke und Autoren auf einen Nenner bringen wollte. Trotzdem: Epochenbezeichnungen sind brauchbar Epochenbegriffe, das haben Sie eben gesehen, sind keine unumstößlichen Normen. Trotzdem haben sie ihr Gutes: Sie ordnen, orientieren, schaffen Überblick und erleichtern auch den Einstieg in die Lektüre. Von einem „Klassiker“ weiß man zumindest ungefähr, was man bei der Lektüre zu erwarten hat, desgleichen bei einem „Re­ alisten“, einem Autor/einer Autorin des „Barock“ oder der „Romantik“. Wenn die Wissenschaft eine Periode defi­ niert, so sucht sie in den Dichtungen und theoretischen Schriften das Gemeinsame: Stil, Sprache, Themen, Aus­ sagen. Die Benennung und Fixierung der literarischen Epoche bietet also eine Orientierungshilfe, aber keine ab­ solute „Objektivität“. Dass die Epochenbegriffe trotz dieser Probleme und Überlagerungen grundsätzlich brauch­ bar sind, das zeigt ihre lange Lebensdauer. Sie werden zwar oft modifiziert, aber nur selten völlig verworfen. „Wir haben sie [= die Epochenbegriffe] nötig, um uns verständlich zu machen, und wissen zugleich, dass sie nie ganz pas- sen“ , fasst der Literaturwissenschafter Karl Otto Conrady die Epochenproblematik zusammen. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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