Literaturräume, Schulbuch
152 3. faust-fenster Der Verlust der familiären Geborgenheit und die gesellschaftliche Ächtung schreiten voran. Gretchens Mutter ist durch Mephistos Trank vergiftet, Gretchens Bruder Valentin distanziert sich von ihr. Von Faust im nächtlichen Fechtkampf mit Mephistos Hilfe zu Tode verwundet, verstößt Valentin seine Schwester. Seine letzten Worte sind Fluchworte an sie, die er als Metze [= Hure] beschimpft. Ich seh’ wahrhaftig schon die Zeit, Dass alle brave Bürgersleut’, Wie von einer angesteckten Leichen, Von dir, du Metze! seitab weichen. Dir soll das Herz im Leib verzagen, Wenn sie dir in die Augen sehn! Sollst keine goldne Kette mehr tragen! In der Kirche nicht mehr am Altar stehn! In einem schönen Spitzenkragen Dich nicht beim Tanze wohlbehagen! In eine finstre Jammerecken Unter Bettler und Krüppel dich verstecken Und, wenn dir dann auch Gott verzeiht, Auf Erden sei vermaledeit! Dass Faust wegen des Totschlags fliehen muss, verstärkt Gretchens Alleingelassensein. Verlust der familiären Geborgenheit, soziale Ächtung – damit nicht genug. Auch der religiöse Halt wird Gretchen genommen. Die Szene „Im Dom“ hält diesen Augenblick fest. „Nie zuvor in der deutschen Literatur wurde die Verlassenheit einer jungen Frau von Mensch und Gott ergreifender dargestellt als in dieser Szene“ , urteilt ein Literaturwissenschafter. Freie Rhythmen, unterbrochen von den Versen der kirchlichen Totenliturgie des „Dies Irae“, des Tags des gött lichen Zorns und Gerichts nach dem Tod, prägen diese Szene. Dom Amt, Orgel und Gesang. Gretchen unter vielem Volke. Böser Geist hinter Gretchen. Böser Geist: Wie anders, Gretchen, war dir’s, Als du noch voll Unschuld Hier zum Altar tratst, Aus dem vergriffnen Büchelchen Gebete lalltest, Halb Kinderspiele, Halb Gott im Herzen! Gretchen! Wo steht dein Kopf? In deinem Herzen Welche Missetat? Betst du für deiner Mutter Seele, die Durch dich zur langen, langen Pein hinüberschlief? Auf deiner Schwelle wessen Blut? – Und unter deinem Herzen Regt sich’s nicht quillend schon Und ängstet dich und sich Mit ahnungsvoller Gegenwart? Gretchen: Weh! Weh! Wär’ ich der Gedanken los, Die mir herüber und hinüber gehen Wider mich! Chor: Dies irae, dies illa Solvet saeclum in favilla. […] Gretchen: Wär’ ich hier weg! Mir ist, als ob die Orgel mir Den Atem versetzte, Gesang mein Herz Im Tiefsten löste. Chor: Judex ergo cum sedebit, Quidquid latet adparebit, Nil inultum remanebit. Gretchen: Mir wird so eng! Die Mauernpfeiler Befangen mich! Das Gewölbe Drängt mich – Luft! Böser Geist: Verbirg dich! Sünd’ und Schande Bleibt nicht verborgen. Luft? Licht? Weh dir! Chor: Quid sum miser tunc dicturus? Quem patronum rogaturus? Cum vix justus sit securus. Böser Geist: Ihr Antlitz wenden Verklärte von dir ab. Die Hände dir zu reichen, Schauert’s den Reinen. Weh! Chor: Quid sum miser tunc dicturus? Gretchen: Nachbarin! Euer Fläschchen! – (Sie fällt in Ohnmacht) Die lateinischen Verse in Übersetzung: Der Tag des Zorns, jener Tag löst unser Zeitalter auf in Asche. / Wenn der Richter auf seinem Richterstuhl sitzen wird, wird offenbar, was verborgen ist, und nichts wird ohne Vergeltung blei- ben. / Was soll ich Elender dann sagen? Wen als Fürsprecher anflehen? Ist doch nicht einmal der Gerechte sicher. Was soll ich Elender dann sagen? 2 4 6 8 10 12 14 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=