Literaturräume, Schulbuch
Die „Gretchentragödie“ Von „Straße“ und „Abend“ über „Ein Garten“, „Ein Gartenhäuschen“ zu „Gretchens Stube“– die Macht von Sexualität und Liebe Die Tragödie, in die Faust einen anderen Menschen, nämlich Gretchen, hineinzieht, ist Goethes eigene Erfindung. Faust kommt gerade aus der Hexenküche, Gretchen aus der Kirche. Stärker könnte der Kontrast nicht sein. Was der Faust des „Osterspaziergangs“ nie getan hätte, tut er nun. Er spricht Gretchen auf der Straße an. Sie macht sich los. Auch Mephistopheles rät ab, Gretchen ist ein unschuldiges Mädchen. Doch Faust ist bereits an den Teufel gebunden und von sexueller Gier gepackt: 151 1 kritisieren Mephistopheles […] Über die hab’ ich keine Gewalt! Faust: Ist über vierzehn Jahr doch alt. […] Und das sag’ ich Ihm kurz und gut: Wenn nicht das süße junge Blut Heut Nacht in meinen Armen ruht, So sind wir um Mitternacht geschieden. Und Gretchen? Auch sie ist beeindruckt von der Begegnung. Ihre Offenheit, ihr Mangel an Erfahrung und ihr Hineingewachsensein in eine typische Frauenrolle erleichtern es Faust, ihre Liebe zu gewinnen. „Ich gäb’ was drum, wenn ich nur wüsst’, / Wer heut der Herr gewesen ist! / Er sah gewiss recht wacker aus, / Und ist aus einem edlen Haus […].“ Und später: „Sein hoher Gang, sein’ edle Gestalt, / Seines Mundes Lächeln, seiner Augen Gewalt“. Im Garten kommen Faust und Gretchen einander näher, küssen sich, gestehen einander ihre Liebe. Das Sehnen beider ist groß. Gretchen singt am Spinnrad: Meine Ruh’ ist hin, Mein Herz ist schwer; Ich finde sie nimmer Und nimmermehr. Wo ich ihn nicht hab’, Ist mir das Grab, Die ganze Welt Ist mir vergällt. Um die Liebesnacht zu ermöglichen, soll der Mutter ein Schlaftrunk verabreicht werden. Mephistopheles braut ihn. Die Liebesnacht ist nun zwar möglich, doch der Schlaftrunk ist Gift. Die Auslöschung von Gretchens Familie hat begonnen. „Am Brunnen“, „Nacht“ und „Dom“ – die Fortsetzung der „Gretchentragödie“ Die Konsequenzen der Liebesnacht deuten sich zunächst im Gespräch zwischen Gretchen und ihrer Freundin Lieschen am Dorfbrunnen an. Lieschen berichtet nicht ohne Genugtuung und Schadenfreude über Bärbelchen: „Sie füttert zwei, wenn sie nun isst und trinkt!“ Ihr Liebhaber ist fort, als unverheiratete Mutter wird sie öffentlich in der Kirche zur Schau gestellt, muss „im Sünderhemdchen Kirchbuß’ tun!“ . Ohne es zu wissen, hat Lieschen damit auch Gretchens Schicksal getroffen: Gretchen (nach Hause gehend): Wie konnt’ ich sonst so tapfer schmälen 1 , Wenn tät ein armes Mägdlein fehlen! Wie konnt’ ich über andrer Sünden Nicht Worte gnug der Zunge finden! […] Und segnet’ mich und tat so groß, Und bin nun selbst der Sünde bloß! Doch – alles, was dazu mich trieb, Gott! war so gut! ach war so lieb! 2 4 6 2 4 6 8 2 4 6 8 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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