Literaturräume, Schulbuch
15 Der leseraum | Der fokus 4 Der magische Weg, Probleme zu bewältigen Der „Lorscher Bienensegen“ (aufgezeichnet um 950) Der Sinn von Zaubersprüchen In die kirchlichen Bemühungen, die Menschen in die christlichantike Bildung einzuführen, bricht oft die urtüm liche, offenbar zeitlose Welt der Magie ein. Auch wenn wir heute gewohnt sind, Vernunft, Wissenschaft und allenfalls Religion zur Abwehr von Schaden oder Erzielung von Nutzen einzusetzen, so gibt es auch verstärkt wieder magischesoterische Praktiken. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sich die „vorwissenschaftliche“ Welt des frühen Mittelalters, in der das Christentum noch wenig gefestigt ist, magischer Praktiken wie der Zau bersprüche bedient. Allerdings sind nur wenige solcher Sprüche überliefert. Nur die Mönche konnten schreiben, sie waren aber natürlich nicht interessiert, das kostbare Pergament für heidnische Texte zu „verschwenden“. Mit den beiden im 10. Jahrhundert aufgezeichneten „Merseburger Zaubersprüchen“, benannt nach ihrem Aufbewah rungsort, dem Kloster Merseburg, sollten Feinde gefesselt und eigene Gefangene befreit beziehungsweise die Fußverletzung eines Pferdes geheilt werden. Sie wurden, ebenso wie der „Lorscher Bienensegen“, vermutlich in einer Art Gesang vorgetragen. Zaubersprüche werden angepasst Zaubersprüche passten nicht in ein christliches Missionsprogramm, andererseits waren sie schwer „ausrottbar“. Eine Lösung bestand darin, sie mit christlichen Inhalten zu ergänzen und zu Segenssprüchen umzuformulieren. So hatten sie auch größere Chancen, überliefert zu werden. Ein Beispiel dafür ist der „Lorscher Bienensegen“. Die Übertragung ins Neuhochdeutsche ist zeilenweise eingeschoben. Kirst, imbi ist hucze! nu fluic du, vihu minaz, her Christus, das Bienenvolk ist weg! Nun flieg du, mein Vieh, hierher fridu frono in godes munt heim zi comonne gisunt. in heiligem Frieden im Schutze Gottes, um gesund heimzukommen. sizzi, sizzi, bina: inbot dir sancta Maria. Sitz, sitz, Biene: gebot dir die heilige Maria. hurolob ni habe du: zi holze ni fluc du, Die Erlaubnis [sollst] du nicht haben: flieg nicht in den Wald; noh du mir nindrinnes, noh du mir nintuuinnest. dass du mir weder entrinnst, noch mir entwischst. sizzi vilo stillo, uuirko godes uuillon. Sitz ganz still, tu Gottes Willen. Der fokus Frau Ava, die erste deutschsprachige Dichterin Das Werk der Frau Ava Das erhaltene Werk der Dichterin besteht aus etwa 300 Strophen, ist in einer Handschrift aus dem steirischen Kloster Vorau enthalten und befasst sich mit biblischen Themen. Die Titel ihrer Werke: „Johannes der Täufer“, „Das Leben Jesu“, „Der Antichrist“ und „Das Jüngste Gericht“. In dessen letzter Strophe stellt sie sich selbst vor. Sie finden hier Original und Übersetzung: 2 4 6 8 10 12 AUFGABEN > An welchen Stellen wird der christliche Einfluss auf den Zauberspruch deutlich? > Auf welches im Text vorkommende althochdeutsche Wort für „Biene“ geht der Begriff „Imker“ zurück? > Welche Zaubersprüche, zum Beispiel aus Ihrer Kinderzeit, welche Segensund Verwünschungsformeln kennen Sie selbst? Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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