Literaturräume, Schulbuch
Wird doch nicht immer geküsst, es wird vernünftig gesprochen; Überfällt sie der Schlaf, lieg ich und denke mir viel. Oftmals hab ich auch schon in ihren Armen gedichtet Und des Hexameters Maß leise mit fingernder Hand Ihr auf den Rücken gezählt. Sie atmet in lieblichem Schlummer, Und es durchglühet ihr Hauch mir bis ins Tiefste die Brust. […] Ein Reisender zu Fuß Einer der bemerkenswertesten Italienreisenden der Epoche ist ohne Zweifel Johann Gottfried Seume (1763– 1810). Am 6. 10. 1801 bricht Seume von Leipzig auf und kommt, zu Fuß, bis Syrakus auf Sizilien, am 24. 8. 1802 ist er wieder zurück. Der gemütliche Titel seines Reiseberichts, „Spaziergang nach Syrakus“, steht in ironischem Kon trast zur gar nicht bequemen Fußreise über Wien, Venedig, Rom, Neapel nach Syrakus und retour über Mailand, Zürich, Paris, Frankfurt amMain, auf der Seume oft in bedrohliche Situationen gerät. 1805 wandert er nach Russ land, Finnland, Schweden. Aus welchen Gründen geht jemand tausende Kilometer zu Fuß, anstatt Kutsche, Wagen, Pferde zu nehmen? Lesen Sie dazu Seume selbst: 145 Der fokus Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt. Überfeine und unfeine Leute mögen ihre Glossen darüber machen nach Belieben; es ist mir ziemlich gleichgültig. Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbstän- digste in dem Manne und bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. Man kann fast überall bloß deswegen nicht recht auf die Beine kommen und auf den Beinen bleiben, weil man zuviel fährt. […] Wer zuviel in dem Wagen sitzt, mit dem kann es nicht ordentlich gehen. Wo alles zuviel fährt, geht alles sehr schlecht, man sehe sich nur um! Sowie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt. Man kann niemand mehr fest und rein ins Angesicht sehen, wie man soll, man tut notwendig zuviel oder zuwenig. Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft. Schon deswegen wünschte ich nur selten zu fahren, und weil ich im Wagen keinem Armen so bequem und freundlich einen Groschen geben kann. Wenn ich nicht mehr zuweilen einem Armen einen Groschen geben kann, so lasse mich das Schicksal nicht länger mehr leben! 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 8 10 12 Politische Reiseliteratur Seumes Bekenntnis zur Fußreise ist auch Ausdruck einer neuen Sichtweise. Gehen vermittelt bewusst die Per spektive der Nähe. Seume will auch die Missstände in Europa nicht länger aus der Distanz der Kutsche betrach ten. Der Autor nähert sich damit einer politisch engagierten Reiseliteratur, die damals besonders für Reisen nach Frankreich gepflegt wird. Nach dem Umsturz von 1789 herrscht großes Interesse für die Entwicklung der franzö sischen Revolution und Frankreichs republikanische Verfassung. AUFGABEN > Schlagen Sie die Bedeutung der Begriffe „anthropologisch“ und „kosmisch“ nach und erklären Sie, was Seume im ersten Satz damit meint! Welches Verb verwendet er als Antithese zu „gehen“? Fassen Sie Seumes Gründe für seine Bevorzugung des Gehens zusammen! > Schreiben Sie in freier Form eine Stellungnahme zu dem berühmt gewordenen Satz „Ich bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge“ ! Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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