Literaturräume, Schulbuch

Der Grund für seine Einkerkerung folgt unmittelbar darauf. Ein Adeliger hat Jeronimo, Hauslehrer von dessen Tochter Josephe, wegen des allzu „zärtlichen Einverständnisses“ mit ihr entlassen und seine Tochter als Strafe ins Kloster gesteckt. Doch die beiden halten ihre Liebesbeziehung aufrecht. Bei der Fronleichnamsprozession wird Josephe vor der Kathedrale von den Wehen überrascht. Kaum hat sie im Gefängnis einen Buben geboren, wird beiden der Prozess gemacht. Josephe wird zum Tod verurteilt, „zur großen Entrüstung der Matronen und Jung- frauen von St. Jago“ allerdings nicht zum Feuertod, sondern „nur“ zur Enthauptung. Jeronimo wird verhaftet und will im Gefängnis Selbstmord begehen. 141 der leseraum Die zufällige Wirkung des Bebens – Teil 1: Jeronimo Eben stand er [= Jeronimo], wie schon gesagt, an einem Wandpfeiler, und befestigte den Strick, der ihn dieser jammervollen Welt entreißen sollte, an eine Eisenklammer, die an dem Gesimse derselben eingefügt war; als plötzlich der größte Teil der Stadt, mit einem Gekrache, als ob das Firmament ein- stürzte, versank, und alles, was Leben atmete, unter seinen Trümmern begrub. Jeronimo Rugera war starr vor Entsetzen; und gleich als ob sein ganzes Bewusst- sein zerschmettert worden wäre, hielt er sich jetzt an dem Pfeiler, an welchem er hatte sterben wollen, um nicht umzufallen. Der Boden wankte unter seinen Füßen, alle Wände des Gefängnisses rissen, der ganze Bau neigte sich, nach der Straße zu einzustürzen, und nur der, seinem langsamen Fall begegnende, Fall des gegenüberstehenden Gebäudes verhinderte, durch eine zufällige Wölbung, die gänzliche Zubo- denstreckung desselben. Zitternd, mit sträubenden Haaren, und Knien, die unter ihm brechen wollten, glitt Jeronimo über den schiefgesenkten Fußboden hinweg, der Öffnung zu, die der Zusammenschlag beider Häuser in die vordere Wand des Gefängnisses eingerissen hatte. […] Besinnungslos, wie er sich aus diesem allgemeinen Verderben retten würde, eilte er, über Schutt und Gebälk hinweg, indessen der Tod von allen Seiten Angriffe auf ihn machte, nach einem der nächsten Tore der Stadt. Die zufällige Wirkung des Bebens – Teil 2: Josephe Josephe war, auf ihrem Gang zum Tode, dem Richtplatze schon ganz nahe gewesen, als durch den krachenden Einsturz der Gebäude plötzlich der ganze Hinrichtungszug auseinandergesprengt ward. Ihre ersten entsetzensvollen Schritte trugen sie hierauf dem nächsten Tore zu; doch die Besinnung kehrte ihr bald wieder, und sie wandte sich, um nach dem Kloster zu eilen, wo ihr kleiner, hülfloser Knabe zurückgeblieben war. Sie fand das ganze Kloster schon in Flammen, und die Äbtissin, die ihr in jenen Augenblicken, die ihre letzten sein sollten, Sorge für den Säugling angelobt hatte, schrie eben, vor den Pforten stehend, nach Hülfe, um ihn zu retten. Josephe stürzte sich, unerschrocken durch den Dampf, der ihr entgegenqualmte, in das von allen Seiten schon zusammenfallende Gebäude, und gleich, als ob alle Engel des Himmels sie um- schirmten, trat sie mit ihm unbeschädigt wieder aus dem Portal hervor. […]. Sie hatte noch wenig Schritte getan, als ihr auch schon die Leiche des Erzbischofs begegnete, die man soeben zerschmettert aus dem Schutt der Kathedrale hervorgezogen hatte. Der Palast des Vizekönigs war versunken, der Gerichtshof, in welchem ihr das Urteil gesprochen worden war, stand in Flammen, und an die Stelle, wo sich ihr väterliches Haus befunden hatte, war ein See getreten, und kochte rötliche Dämpfe aus. Die trügerische Idylle Außerhalb der Stadt in einem idyllischen Tal strömen viele Gerettete zusammen. Die Natur bildet für den Rous­ seau-Anhänger Kleist einen positiven Kontrast zur Gesellschaft. Auch Jeronimo und Josephe mit ihrem Kind finden dort zueinander. Ihre Freude ist groß, in der allgemeinen Not schämen sie sich fast, so wunderbar gerettet worden zu sein. Und weil die Armen immer noch jammerten; dieser, dass er sein Haus, jener, dass er Weib und Kind, und der dritte, dass er alles verloren habe: so schlichen Jeronimo und Josephe in ein dichteres Gebüsch, um durch das heimliche Gejauchz ihrer Seelen niemand zu betrüben. Sie fanden einen prachtvollen Granat­ apfelbaum, der seine Zweige, voll duftender Früchte, weit ausbreitete; und die Nachtigall flötete im Wipfel ihr wollüstiges Lied. […] Sie beschlossen, sobald die Erderschütterungen aufgehört haben würden, nach La Conception zu gehen; wo Josephe eine vertraute Freundin hatte, sich mit einem kleinen Vorschuss, den sie von ihr zu erhalten hoffte, von dort nach Spanien einzuschiffen, wo Jeronimos mütterliche Verwandten wohnten, und daselbst ihr glückliches Leben zu beschließen. 2 4 6 8 10 12 14 16 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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