Literaturräume, Schulbuch
140 DIe „ WeImarer klassIk“ (1786/1794–1805) unD Der „ geIst Der goethezeIt“ (bIs 1832) beten hatte. Die Aufführung war jedoch ein Misserfolg, für den Kleist Goethes Inszenierung verantwortlich machte, wohl nicht zu Unrecht. Auch Kleists Erzählungen wurden kaum gelesen, zu verstörend waren sie. Und auch der Versuch, sich mit selbst geschriebenen Zeitschriften eine Existenz zu sichern, scheiterte. Der „Phöbus. Journal für die Kunst“ musste ebenso bald eingestellt werden wie die „Berliner Abendblätter“. Kleists kurzes Leben Unter dem Druck der Familie wählt Kleist die Offizierslaufbahn. Es folgen der baldige Abschied vom Militär, das Studium von Jus und Philosophie, der Versuch, in der Schweiz als Bauer zu leben, (vermutliche) Spionagetätig keit gegen Napoleon, die Verfrachtung nach Frankreich als Gefangener, scheiternde Zeitschriftenpläne, Selbst mord zusammen mit der unheilbar kranken Henriette Vogel. Kleist liest Kant und stürzt in die Krise Einen besonderen Einschnitt in Kleists Leben markiert seine Beschäftigung mit der Philosophie Kants. Sie stürzt Kleist in eine tiefe Krise. Kant hatte in der „Kritik der reinen Vernunft“ und der „Philosophie der Urteilskraft“ festgestellt, dass die menschliche Erkenntnis nie absolut sein könne. Die Welt stellt sich nämlich unter be stimmten Bedingungen dar, in Raum und Zeit, wahrgenommen von den Sinnen und interpretiert vom Verstand. Das „Ding an sich“ kann der Mensch nicht erkennen, nur dessen Erscheinungen sind wahrnehmbar. Dass es ob jektive und für alle gleichermaßen erkennbare und verbindliche Wahrheit gebe, das schien Kleist fortan unmög lich. So schreibt Kleist nach der Lektüre der „Kritik der reinen Vernunft“ an seine damalige Verlobte: Vor kurzem ward ich mit der neueren so genannten Kantischen Philosophie bekannt – und Dir muss ich jetzt daraus einen Gedanken mitteilen, indem ich nicht fürchten darf, dass er Dich so tief, so schmerz- lich erschüttern wird als mich. […] Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblickten, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. […] Chancenlos Diese Unerkennbarkeit der Wahrheit prägt auch Kleists Werk. Seine Per sonen leiden unter Missverständnissen, Nichterkennen der Situationen, in denen sie sich befinden, und an nicht durchschaubaren Zufällen. „Wir dünken uns frei, und der Zufall führt uns allgewaltig an tausend feinge- sponnenen Fäden fort“ , schreibt Kleist kurz nach seiner KantKrise. Seine Personen haben keine Chance, sich an objektiven Wahrheiten festzuhal ten, keine Möglichkeit, sich so zu verhalten, dass es ihnen und anderen nicht schadet. Auch die Sprache taugt nicht zu objektiver, von Fehlinter pretationen und Fälschungen freier Kommunikation. In einem Brief be klagt Kleist, dass „es uns an einem Mittel zur Mitteilung fehlt. Selbst das einzige, das wir besitzen, die Sprache taugt nicht dazu, […] was sie uns gibt, sind nur zerrissene Bruchstücke.“ Man könnte Kleist in diesem Zusam menhang als einen der ersten „Sprachskeptiker“ bezeichnen. „Das Erdbeben in Chili“ – Ausgangspunkt und Vorgeschichte Kleists erste gedruckte Erzählung setzt mit einer für seinen Stil typischen ausgedehnten Satzperiode ein: Heinrich von Kleist In St. Jago, der Hauptstadt des Königreichs Chili, stand gerade in dem Augenblicke der großen Erderschütterung vom Jahre 1647, bei welcher viele tausend Menschen ihren Untergang fanden, ein junger, auf ein Verbrechen angeklagter Spanier, namens Jeronimo Rugera, an einem Pfeiler des Gefängnisses, in welches man ihn eingesperrt hatte, und wollte sich erhenken. 2 4 6 8 10 12 14 2 4 6 8 Nur zu Prüfzw cken – Eigentum des Verlags öbv
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