Literaturräume, Schulbuch
138 DIe „ WeImarer klassIk“ (1786/1794–1805) unD Der „ geIst Der goethezeIt“ (bIs 1832) Hälfte des Lebens Mit gelben Birnen hänget Und voll mit wilden Rosen Das Land in den See, Ihr holden Schwäne, Und trunken von Küssen Tunkt ihr das Haupt Ins heilignüchterne Wasser. Weh mir, wo nehm’ ich, wenn Es Winter ist, die Blumen, und wo Den Sonnenschein, Und Schatten der Erde? Die Mauern stehn Sprachlos und kalt, im Winde Klirren die Fahnen. Die Flucht in den Wahnsinn? 1802 stirbt Susette Gontard, Hölderlin dürfte sie kurz vor ihrem Tod noch besucht haben. „Leichenblass, abgema- gert, von hohlem, wildem Auge, langem Haar und Bart, und gekleidet wie ein Bettler“ trifft er wenig später bei sei ner Mutter ein. Der nächste Schlag kommt 1805. Ein Freund Hölderlins wird verhaftet, des Hochverrats und ge planten Anschlags gegen das Leben des Kurfürsten von Württemberg beschuldigt. Ideen zu einem Staatsstreich gegen das absolutistische Regime und über die Einrichtung einer Republik, beruhend auf den Ideen der revoluti onären französischen Jakobiner, hatte es unter Hölderlins Freunden tatsächlich gegeben. Hölderlin lebt in mona telanger Furcht, verhaftet zu werden. Ein Gutachten bescheinigt ihm, er sei „seit einigen Monaten […] in einen höchst traurigen Gemütszustand verfallen, so dass er als wirklich Rasender betrachtet werden müsse. Er rufe beina- he unausgesetzt: ‚Ich will kein Jakobiner sein, fort mit allen Jakobinern. Ich kann meinem gnädigsten Kurfürsten mit gutem Gewissen unter die Augen treten.‘ “ 1806 wird er in die Nervenklinik nach Tübingen eingeliefert. Das Bre chen des „kranken“ Willens gehört zu den Grundsätzen der Behandlung. Im nächsten Sommer übergibt man ihn als „unheilbar“ dem Tischler Zimmer in Tübingen. Laut Diagnose hat Hölderlin noch drei Jahre zu leben. Doch der 36Jährige verbringt weitere 36 Jahre in seiner Turmkammer am Neckarufer. Von nun an ist Hölderlin nicht mehr „normal“, eines Lebens unter „normalen“ Menschen nicht mehr fähig. Hölderlin, ein „Simulant“? Hölderlin lebt im Hause Zimmers. Empfängt er Besuche, so nennt er sich meist Buonarotti, Rosetti, Killalusimeno, Salvator Rosa , die Besucher begrüßt er als „Majestät“ oder „Ew. Heiligkeit“ . Wenn man ihn mit „Herr Magister“ anspricht, wird er abweisend und entgegnet: „Ich bin kein Magister, ich bin fürstlicher Bibliothekarius.“ Spricht man von Susette Gontard, so erwidert er: „Ach, meine Diotima: reden Sie mir nicht von meiner Diotima; dreizehn Söhne hat sie mir geboren: der eine ist Papst, der andere ist Sultan, der dritte Kaiser von Russland.“ Folgt man der nicht unumstrittenen Theorie des Hölderlinforschers Pierre Bertaux, so hat Hölderlin diesen Rückzug freiwillig und bewusst angetreten und seinen „Wahnzustand“ als Schutz vor der Außenwelt verstanden. 48 Gedichte schreibt der Dichter von 1806 bis zu seinem Tod 1843. 23 davon unterzeichnet er als Scardanelli und fügt ihnen fiktive Jahreszahlen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert hinzu. 2 4 6 8 10 12 14 > Das Gedicht ist antithetisch aufgebaut. Die beiden „Hälften“ des Jahres stehen einander als „Hälften des Lebens“ gegenüber. Mit welchen Strophen verbinden Sie folgende Begriffe: Harmonie und Verbindendes, Leben und Bewegung, Trennendes, Bewegungsloses, Starres? > Beschreiben Sie die in den beiden Strophen vorgestellten Landschaften und Jahreszeiten! > Die sprachliche Kunst des Gedichts bemerken Sie auch, wenn Sie es geringfügig ändern. Ersetzen Sie zum Beispiel in der ersten Verszeile „Birnen“ durch „Äpfel“, in der zweiten „wilden“ durch „roten“. Welche negativen klanglichen und inhaltlichen Veränderungen ergeben sich ? > Lesen Sie die Deutung des Gedichts, die der österreichische Lyriker Ernst Jandl unter dem Titel „Beweis für menschliches Glück“ gegeben hat. Jandls Deutung ist enthalten im dritten Band der Gedichtsammlung „1000 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen“, herausgegeben von Marcel ReichRanicki. D B n AUFGABEN AUFGABE > Lesen Sie einige dieser späten Gedichte, die früher als „Gedichte aus der Zeit der Umnachtung“ bezeich net wurden. Um welche Themen geht es darin? Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=