Literaturräume, Schulbuch
Es fürchte die Götter Das Menschengeschlecht! Sie halten die Herrschaft In ewigen Händen, Und können sie brauchen, Wie’s ihnen gefällt. Der fürchte sie doppelt, Den je sie erheben! 129 Der leseraum Eine Tragödie bahnt sich an. Doch diese Möglichkeit der Gestaltung wird von Goethe bewusst vermieden. Die drohende Katastrophe kann durch die Humanität der Personen abgewendet werden. Zwar bringen Orest und Pylades das Bild der Artemis an sich und treffen die Vorbereitungen zur Flucht, doch Iphigenie sucht den Weg der Ehrlichkeit. Sie will Thoas ihr Anliegen vorbringen, mit Orest und Pylades das Land zu verlassen. Thoas wird von der Wahrhaftigkeit Iphigenies überzeugt und lässt die Griechen ziehen. Humanismus kann Grenzen über winden, auch der „Barbar“ Thoas lässt Milde walten. Bei Euripides ist Thoas der betrogene „Wilde“, der nichts Besseres als Betrug verdient. Goethe gestaltet Thoas wie Iphigenie als Personifikation der Menschlichkeit. „Ganz verteufelt human“ nannte Goethe deshalb auch das Stück in einem Brief an Schiller. Es sei „erstaunlich modern“ , schrieb Schiller zwei Tage später zurück. 2 4 6 8 Iphigenie: […] Vernimm, o König, Es wird ein heimlicher Betrug geschmiedet: Vergebens fragst du den Gefangnen nach; Sie sind hinweg und suchen ihre Freunde, Die mit dem Schiff am Ufer warten, auf. Der ältste […] es ist Orest, Mein Bruder, und der andre sein Vertrauter, Sein Jugendfreund, mit Namen Pylades. Apoll schickt sie von Delphi diesem Ufer Mit göttlichen Befehlen zu, das Bild Dianens wegzurauben und zu ihm Die Schwester hinzubringen, und dafür Verspricht er dem von Furien Verfolgten, Des Mutterblutes Schuldigen, Befreiung. Und beide hab’ ich nun, die Überbliebnen Von Tantals Haus, in deine Hand gelegt: Verdirb uns – wenn du darfst. Thoas: Du glaubst, es höre Der rohe Skythe, der Barbar, die Stimme Der Wahrheit und der Menschlichkeit, die Atreus 1 , der Grieche, nicht vernahm? […] Iphigenie: O reiche mir die Hand zum Friedenszeichen. Thoas: Du forderst viel in einer kurzen Zeit. 1 Der Tantalide Atreus tötet die von seinem Bruder verführte Gattin und zwölf der dreizehn Kinder des Bruders und lässt sie ihm zum Essen vorsetzen. Kunst und Wirklichkeit: „Iphigenie“ und „Tasso“ INFO Schon 1779 hatte Goethe im Auftrag der Herzogin Anna Amalia mit der „Iphigenie“ begonnen. Doch die Arbeit stockte. Als Goethe über ideale Menschlichkeit dichtet, hungern in der bei Weimar gelegenen Stadt Apolda die Strümpfemacher und ihre Familien, weil die Webstühle mangels Absatz stillstehen. Goethe war die Differenz zwischen der literarischen Humanität und der sozialen Wirklichkeit bewusst . „Hier will das Drama gar nicht fort, es ist verflucht, der König von Tauris soll reden, als wenn kein Strumpfwürcker in Apolda hungerte“ , schreibt Goethe 1779 an Frau von Stein. Erst nach der Italienreise 1786 konnte Goethe das Drama ab schließen. Auch in dem zeitgleich zur „Iphigenie“ begonnenen, ebenfalls erst nach der Reise nach Italien fertig gestellten Drama „Torquato Tasso“ gibt sich Goethe skeptisch, was den Einfluss der Kunst anlangt. Der berühmte Dichter Tasso (1544–95) erlebt, dass für die adelige Gesellschaft, für die er dichtet, Kunst ein Spiel ist, in das man flüchtet, um sich vor Unannehmlich keiten des Lebens abzuschirmen, und der Künstler in erster Linie wichtig ist zur Anhebung des Prestiges der Fürsten. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 AUFGABE > Lesen Sie den folgenden Dialog zwischen Thoas und Iphigenie, bei dem später auch Orest dazukommt. Bestimmen Sie zur Erleichterung der Lektüre folgende Etappen des Gesprächs: Iphigenie informiert Thoas über den Fluchtversuch; Iphigenie erklärt Thoas die Gründe für den Raub des Bildes der Diana (= Artemis) durch Orest; Thoas gibt zu bedenken, dass er ja ein „Barbar“ sei und auch die „zivilisierten“ Griechen nicht immer human handelten; Thoas schwankt, was er tun soll; das „Bild der Schwester“ wird zum neuerlichen Hindernis, doch Orest klärt Thoas über seine falsche frühere Auslegung auf, dass damit nicht das Bild der Schwester Apolls gemeint sei, sondern seine eigene Schwester Iphigenie; Iphigenies Bitte um freundlichen Abschied und Thoas’ Reaktion. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=