Literaturräume, Schulbuch

128 DIe „ WeImarer klassIk“ (1786/1794–1805) unD Der „ geIst Der goethezeIt“ (bIs 1832) Der leseraum 1 Ein Stück, „verteufelt human“, „erstaunlich modern“ Johann Wolfgang Goethe: „Iphigenie auf Tauris“ (1787) Ganz das Gegenteil zum Götz Goethes Reise nach Italien, von der er 1788 zurückkehrt, ist auch literarisch produktiv. Mit Ausnahme des noch stockenden „Faust“ – siehe „3. FaustFenster“– bringt er seine vor der Reise begonnenen Dramen rasch zu Ende. Ein besonderes Anliegen ist ihm die „Iphigenie“. Obwohl das Drama das erste von Goethe fertiggestellte Stück nach „Götz von Berlichingen“ ist, steht es in offenem Gegensatz dazu. Der „Götz“ bietet über 50 Schauplätze und sich über mehrere Jahre hinziehende verschiedene Handlungsstränge mit Dutzenden Personen. In der „Iphige­ nie“ werden hingegen die drei Einheiten und die Ständeklausel strikt angewendet. Statt Dutzender Personen aus allen Ständen treten nur Adelige und insgesamt nur fünf Personen auf. Während der „Götz“ in Prosa geschrieben ist, ist „Iphigenie“ ein Versdrama. Goethe verwendet dabei den schon von Lessing im „Nathan“ gebrauchten fünf­ füßigen Jambus, den Blankvers. Statt des tragischen Todes von Götz wird der Konflikt in der „Iphigenie“ durch Menschlichkeit, Moral, Verzicht auf Lüge überwunden, statt eines Stoffs aus dem ausgehenden Mittelalter nimmt der Autor einen Stoff aus der griechischen Antike. Der Fluch der Tantaliden I Er ist einer der großen Frevler gegen die griechischen Götter, Tantalos. Seinen zerstückelten Sohn Pelops setzt er den Göttern zum Essen vor, um ihre Allwissenheit zu überprüfen. Zur Strafe wird er in den Hades verbannt und zu ewigem Durst verurteilt. Im Fluss stehend, kann er das Wasser nicht erreichen, es weicht zurück, wenn er trinken will. Der Fluch lastet auf seinem ganzen Geschlecht. Seine Nachkommen, die Tantaliden, begehen Ehe­ bruch, Verwandtenmord, Blutschande. Die Letzte in der Kette ist Iphigenie. Ihr Vater Agamemnon opfert sie, um günstigen Wind für seine Flotte zu bekommen, die zum Kampf gegen Troja aufbrechen will. Doch die Göttin Artemis rettet Iphigenie. Sie ersetzt Iphigenie im Moment des Opfers durch eine Hirschkuh und entführt sie zu den Taurern auf der Halbinsel Krim. Der Fluch der Tantaliden II Auf Tauris herrscht der Skythenfürst Thoas. Auf seine Anordnung muss Iphigenie als Artemispriesterin jeden Fremden opfern. Orest ist mit seinem Freund Pylades nach Tauris gekommen, denn Apoll hat ihm aufgetragen, das „Bild der Schwester“ von Tauris nach Griechenland mitzubringen. Nur so könne er von den Rachegöttinnen, den Erinnyen (Furien), befreit werden, die ihn plagen, weil er seine Mutter Klytämnestra ermordet hat. Klytämnestra hatte nämlich ihren Mann Agamemnon bei dessen Heimkehr aus Troja getötet. Orest meint, es handle sich um das Bild der Schwester Apolls, der Artemis (Diana), das er heimzubringen hat und das er in Tauris stehlen muss. Iphigenie erkennt Orest. Zerrissen zwischen dem Gebot des Thoas, Fremde zu töten, und der Liebe zum Bruder, scheint Iphigenies Lage aussichtslos. Euripides: Iphigenie und Orest täuschen Thoas Um 412 v. Chr. hatten die drei großen antiken Tragiker Aischylos, Sophokles und Euripides den Auftrag bekom­ men, ein IphigenieDrama zu schreiben. Nur das Drama des Euripides ist erhalten. Die Lösung des Konflikts bei Euripides: Iphigenie und Orest, die nach Griechenland zurückkehren wollen, scheuen zwar vor einem möglichen Mord an Thoas zurück, Thoas wird von ihnen aber getäuscht und überlistet. Mit Hilfe der Göttin Pallas Athene gelingt die Flucht. Anders Goethe: Menschlichkeit siegt Goethes Iphigenie befindet sich in einer Zwangslage. Entweder gehorcht sie dem Gebot von Thoas, opfert ihren Bruder und setzt damit die Kette der Verwandtenmorde der Tantaliden fort. Oder sie übertritt das Gebot, täuscht Thoas und flieht mit Orest. Verzweiflung erfasst Iphigenie, Zweifel an den Göttern. Sie scheinen ihr will­ kürlich die Menschen ins Unglück zu stürzen: Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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