Literaturräume, Schulbuch
11 DIe lIteraturübersIcht | Der leseraum Manchmal blieben sie auch als Handschriftenreste bewahrt, deren Pergament für die Aufzeichnung christlicher Literatur weiterverwendet wurde. Zaubersprüche, Beschwörungsformeln lebten unter der christlichen Oberflä che besonders im 8. und 9. Jahrhundert fort, wie zum Beispiel die Merseburger Zaubersprüche oder der Lorscher Bienensegen (4) . 150 Jahre Schweigen Ein Jahr nach dem Tode Karls des Großen (814) wird vom Nachfolger Karls, Ludwig dem Frommen, angeordnet, über das bereits Vorhandene hinaus keine weiteren deutschsprachigen Texte zu verfassen. Die Begründung: Die Laien hätten jetzt alles, was sie brauchten. Allerdings war das nicht recht viel: ein paar Gebete, Glaubensbekennt nisse, Taufformeln. Als angemessene Sprache für religiöse und weltliche literarische Werke wurde nun nur mehr das Lateinische akzeptiert, die Literatur somit auf einen winzigen Kreis von „Lesekundigen“, meist Geistlichen, beschränkt. Zwischen 950 und 1050 werden mit einer Ausnahme keine deutschsprachigen Texte mehr produ ziert. Diese Ausnahme bildet ein Mönch aus dem Kloster St. Gallen in der heutigen Schweiz, Notker, genannt der Deutsche, der die von ihm produzierten Übersetzungen von antiken und biblischen Texten ins Deutsche aber nur innerhalb seines Klosters für den Lehrbetrieb verwendet. Notker (950–1022) ist nämlich für die Klosterschu le zuständig und will den Schülern das Verständnis lateinischer Texte erleichtern, indem er diese für sie über setzt. Der Beginn einer kontinuierlichen deutschen Literatur Erst ab 1060 gibt es wieder deutschsprachige Werke, vor allem kirchliche Gebrauchsliteratur – Legenden, Predig ten, Marienlyrik – und legendenhaft aufbereitete geschichtliche Stoffe wie das „Rolandslied“. Seitdem kann man von einer kontinuierlichen deutschsprachigen Literatur sprechen. Der leseraum 1 Die erste deutsche Vater-Sohn-Tragödie Das „Hildebrandslied“ (um 850) Ein Fragment Um 850 im Kloster Fulda von zwei Mönchen auf die Vorder und Rückseite einer Handschrift mit Bibeltexten geschrieben, nur 68 Verse lang, mit Textlücken und kurz vor dem Ende abbrechend, ist das „Hildebrandslied“ ein einzigartiges Zeugnis germanischer Heldendichtung in deutscher Sprache. Es gehört in den Sagenkreis um Diet rich von Bern. Bern ist Verona, Dietrich ist der historische Ostgotenherrscher Theoderich. Der Text handelt von der Vertreibung Dietrichs aus Oberitalien durch den Germanenfürsten Odoaker und von Dietrichs Exil am Hun nenhof. Dietrichs Gefolgsmann Hildebrand begleitet ihn. Der Konflikt Nach 30 Jahren kehrt Hildebrand zurück. Zwischen zwei Heeren – „ untar heriun tuem“ – begegnen einander Hildebrand und sein Sohn Hadubrand. Es ist unklar, ob dies auf einem Kundschafterritt geschieht, an der Spitze zweier gegnerischer Heere oder als stellvertretende Krieger im Zweikampf. Lesen Sie den Text in neuhochdeut scher Übertragung und die ersten sechs Stabreimverse in der Originalsprache: Der Beginn des Hildebrandslieds im Original 1 Ik gihorta dat seggen, 2 dat sih u rhettun æ non muotin, 3 H iltibrant enti H adubrant untar h eriun tuem. 4 sunufatarungo iro s aro rihtun. 5 g arutun s e iro g udhamun, g urtun s ih iro s uert ana, 6 h elidos, ubar h ringa, do sie to dero h iltiu ritun. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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