Literaturräume, Schulbuch
den jungen Dichtern entgegen. Wie Goethes „Götz“ der Durchbruch der Epoche auf dem Gebiet des Dramas war, so gelang Goethe mit dem Roman in Briefen „Die Leiden des jungen Werthers“ (6) der Durchbruch auf dem Gebiet der Epik. „Werther“ wurde der größte Bucherfolg des 18. Jahrhunderts. Die Entstehung des Briefromans hängt mit der zunehmenden Bedeutung des privaten Briefverkehrs im 18. Jahrhundert zusammen. Briefe ermög lichen Indidividualität, Darstellung von Seelenzuständen, alles, was dem Sturm und Drang wichtig war. Der Brief roman wurde zum europäischen Erfolg, die Vorbilder für alle Briefromane der Zeit, Samuel Richardsons Roman „Pamela“ und JeanJacques Rousseaus „Julie ou la Nouvelle HéloÏse“, wurden Bestseller. Die Briefform greift auch auf andere Gattungen über. Literarische Kritik und wissenschaftliche Abhandlungen werden ebenso in Form von Briefen abgefasst wie Reisebeschreibungen und Gedichte. Der erste deutsche „Frauenroman“ 1771 erscheint der Briefroman „Geschichte des Fräuleins von Sternheim“ von Sophie von La Roche , der erste deutsche „Frauenroman“ (7) . Er ist von einer Frau verfasst, im Mittelpunkt der Handlung steht eine Frau, und er richtet sich vor allem an ein weibliches Publikum: Weibliche Tugend trotzt allen Intrigen. Der moralisch verkom mene Hof, dem die junge Sternheim als Mätresse dienen soll, wird dem sittsamen Leben auf dem Land gegenübergestellt. Das Fräulein von Sternheim ist moralisch dem Hof überlegen und widmet sich trotz großer Erniedrigung praktischer Humanität. Die Autobiographie: Spannungsfelder zwischen Ich und Gesellschaft Die Konflikte zwischen dem Einzelnen und dem Milieu, in dem er lebt, bestimmen die im Sturm und Drang als neue Gattung auftretende Autobiographie. Schon den Zeitgenossen galt der Roman „Anton Reiser“ von Karl Philipp Moritz (1756–93) als herausragend. Das Werk des in Armut aufgewachsenen Moritz trägt den Untertitel „Ein psychologischer Roman“. Bemerkenswert daran ist der scharfe Blick, mit dem der Autor seine Kindheit und Jugend analysiert. Phänomene des Unbewussten wie Minderwertigkeitskomplex, Verdrängung, Ersatzbefriedi gung werden von Moritz genauso präzise beschrieben wie seine Selbsttäuschungen und die Flucht in die Phan tasiewelt des Theaters. Mit dem Milieu, aus dem Moritz stammt, Seifensieder, Hutmacher, Musiker, Essigbrauer, führt der Autor eine soziale Schicht in die Dichtung ein, die bisher als nicht „literaturfähig“ galt. Der autobio graphische Roman „Heinrich Stillings Jugend“ von Heinrich JungStilling stellt ebenso die Welt der Bauern, Koh lenbrenner und Handwerker dar wie die Autobiographie „Tagebuch des armen Mannes in Tockenburg“ des Schweizers Ulrich Bräker (1735–98). Der leseraum 1 Wirkliches Erleben statt gespielter Rollen Johann Wolfgang von Goethe: „Willkommen und Abschied“ (1771) Eine Studentenliebe Goethe hatte im Herbst 1770 die Pastorentochter Friederike Brion aus dem unweit von Straßburg gelegenen Sesenheim kennen gelernt. Er schrieb Gedichte als Geschenke für Friederike, sie waren ursprünglich nicht zur Veröffentlichung bestimmt und spiegeln deshalb intensiv die neue Subjektivität der SturmundDrangLyrik. Nach der „Sesenheimer Lyrik“ Goethes ist Lyrik etwas anderes, so urteilt die Literaturwissenschaft. Gefühle wie Liebe sind nicht mehr literarisches Spiel, sondern konkret erlebt. Zur „Sesenheimer Lyrik“ zählen das „Maifest“ und das im Jänner 1771 entstandene Gedicht „Willkommen und Abschied“, das Sie hier in einer von Goethe für den späteren Druck leicht veränderten Fassung finden. 105 DIe lIteraturübersIcht | Der leseraum Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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