Literaturräume, Schulbuch
102 sturm unD Drang (1770–1785/90) und für das Volkstümliche in der eigenen Kultur. Das Charak teristische und Individuelle findet man, so der junge Goethe, beim „Bauern auf dem Hof“ , beim „Handwerksmann in seiner Werkstatt“ , beim „ehrlichen Bürger bey seiner Kanne Wein“ , nicht aber bei den „polirten Menschen“ ; die werden „nie ein eigenes Geschöpf sein“. In Epochen, die dem Naturzustand nä her sind, sei auch die Dichtung noch ursprünglicher. Das bis dahin als „finster“ etikettierte Mittelalter wird erstmals ge schätzt. Herder sammelt in bunter Mischung „Volkslieder“: Echte Volkslieder aus Spanien, England, Nordeuropa stehen neben Strophen von Homer, Shakespeare und aus dem deut schen Barock. Die Resonanz ist gering. Erst die Romantiker veröffentlichen nach Herders Tod die Sammlung unter dem Titel „Stimmen der Völker in Liedern“. Die Zivilisationskritik wird zur politischen Kritik Die Forderung nach Befreiung der Gefühle, nach Selbstbe wusstsein und Individualität richtet sich auch gegen die poli tischen Verhältnisse. Rousseaus Definition, dass der Staat auf einem „Gesellschaftsvertrag“ zwischen Herrscher und Volk beruhe und dieser Vertrag kündbar sei, war schon von den Aufklärern propagiert worden. Im Sturm und Drang verstärkt sich die Kritik an der Fürstenwillkür. Eine gerechtere poli tische und soziale Ordnung wird gefordert. Für die Autoren wird diese Kritik zu einem sehr persönlichen Anliegen. Sie kennen, mit Ausnahme Goethes, Benachteiligung aus eigener Erfahrung, denn sie stammen durchwegs aus dem politisch und sozial schwachen Kleinbürgertum. Zu dem wollen sie ihre Literatur nicht in erster Linie für den Adel und vermögende Bürgerliche schreiben, sondern für das Volk. Doch Lesebereitschaft und Lesefähigkeit können nur dann entstehen, wenn elementare Bildung und soziale Grundsicherung gegeben sind und die Wahl der Lektüre frei von Zensur und Verboten ist. DIe lIteraturübersIcht Die Zeit der „Originalgenies“ Sturm und Drang beginnt in Straßburg Vom Frühjahr 1770 bis Herbst 1771 bildet sich um den 26jährigen Herder und den 21jährigen Goethe (1749– 1832) im elsässischen Straßburg ein Kreis von jungen Autoren. Sie sind durchwegs Studenten an der dortigen Universität: Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–92), Heinrich Leopold Wagner (1747–79), Johann Heinrich Jung, genannt „Stilling“ (1740–1817). Man ist sich einig in der Ablehnung absolutistischer Herrschaft, spricht über die nationale Identität von Deutschen und Franzosen und stellt fest, dass die Deutschen im Gegensatz zu den Fran zosen eine solche Identität erst schaffen müssten. Dabei sollen Sprache und Literatur eine wesentliche Rolle spielen. Das erfordert eine neue Definition des Dichters. Neben Homer ist für sie der schon von Lessing gelobte Shakespeare die Verkörperung des dichterischen Genies. SeinTheater reiße die Zuschauer aus demGewöhnlichen heraus, mache sie zu anderen Menschen. Shakespeare ist für die jungen Autoren, wie Herder in einer Schrift aus der Straßburger Zeit formuliert, „ein Sterblicher mit Götterkraft begabt“ . Ihm gilt es nachzustreben, poetische Regeln und Normen sind abzulehnen und für das Genie nur schädlich, urteilt Goethe in einem Aufsatz über den Erbauer des Straßburger Münsters, Erwin von Steinbach. INFO Wer schrieb Shakespeare? War der berühmteste Dramatiker der Weltliteratur tatsächlich der Schauspieler und Kaufmann aus der Provinzstadt Stratford uponAvon, der am Ende seines Lebens seiner Frau nichts zu vererben hatte als ein schlechtes Bett? Wie kann jemand, von dem nicht bekannt ist, ob er zumindest die Lateinschule seiner Heimatstadt, geschweige denn eine Universität besucht hat, Kenntnisse aus allen Wissenschaften, Techniken und Künsten seiner Zeit haben, so dass man ihn den „Schriftsteller, der alles wusste“ nannte. Wieso gilt die Parteinahme des Autors dem Hochadel, während das einfache Volk vor allem der Belustigung dient? Ist der wahre „Shakespeare“ ein Adeliger am englischen Hof, der Shake speare als Strohmann vorschob, da Dichten in Adelskreisen als unehrenhaft galt? Ist Christo pher Marlowe, Verfasser eines FaustDramas, gar nicht ermordet worden, sondern unterge taucht, um heimlich als „Shakespeare“ weiterzuschreiben? Die Frage nach „Shake speare“ ist bis heute nicht geklärt. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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